Für das amerikanische Nachrichtenmagazin Time ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel «Person of the Year» und die Begründung lässt an moralischer Deutlichkeit keine Wünsche offen. «Merkel zeigt eine neue Skala von Werten wie Menschlichkeit, Grosszügigkeit und Toleranz und demonstriert damit, wie Deutschlands Stärke zur Rettung statt zur Zerstörung eingesetzt werden kann.»
Die Wahl des gesperrten Fifa-Präsidenten Sepp Blatter zum «Schweizer des Jahres» durch die Weltwoche wirkt zwar bizarr.
Die Begründung aber verrät, dass Autor Roger Köppel mit seiner Auszeichnung viel mehr das «Lebenswerks» Blatters meint als dessen krampfhaftes Festkrallen am Amt im ablaufenden Jahr. «Das Begleitgetöse trübte freilich den Blick auf die eindrücklichen Leistungen dieses Ausnahmeschweizers, der als eine Mischung aus Sonderbotschafter und Entwicklungshelfer rastlos um den Planeten tourte», so Köppel.
Merkel und Blatter verdienten sich ihre Titel dank ihrer Funktion und ihres Einflusses. Angela Merkel wird auch bei Le Magazine du Monde ausgezeichnet: «Die deutsche Kanzlerin hat sich von der eisernen Lady zur ‹Mutti› gewandelt.»
Durchschnittsbürger als Helden
Abgesehen von Merkel aber präsentiert das französische Magazin ausschliesslich Durchschnittsbürger als «Helden». Wie Lassana Bathily, einen 25-jährigen moslemischen Malier, der eigentlich gar nicht mehr in Frankreich hätte sein dürfen, als am 9. Januar ein islamistischer Terrorist den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher in Paris stürmt.
Bathily aber arbeitete immer noch im Supermarkt, 1055 Euro Verdienst monatlich. Als der Terrorist Coulibaly den Laden wild um sich schiessend stürmt und dabei vier Menschen tötet, bringt Bathily mehrere Kunden in einem Kühlraum in Sicherheit.
Danach flüchtet er über einen Notausgang und händigt der Polizei die Schlüssel zum Geschäft aus sowie Informationen über den Geiselnehmer, welche die erfolgreiche Stürmung durch die Sondererheiten erleichtern.
Wenige Tage später erhält Lassana Bathily den französischen Pass, persönlich ausgehändigt von Premierminister Manuel Valls.
Ein normaler Citoyen wird Bathily allerdings nie: Er wird vom malischen Präsidenten Ibrahim Boubakar und von US-Staatssekretär John Kerry empfangen, François Hollande bezeichnet ihn als seinen «Lieblings-Franzosen», er bekommt Interview-Anfragen aus aller Welt. 450 davon lehnt er ab. «Ich bin nur Lassana», sagt er, «ein ‹Held› ist etwas aussergewöhnliches wie Nelson Mandela. Jemand der für den Frieden kämpft.»
Bedarf an Helden ist gross
Und dennoch ist der öffentliche Bedarf an Menschen, die sich der Gewalt und Anti-Zivilisation entgegenstellen, gross. Gerade in einem Land wie Frankreich, dass im zu Ende gehenden Jahr mehrfach von Terroranschlägen heimgesucht worden war, wie sie Europa seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Mario Schranz, der Leiter des Instituts Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich, sagt:
Die Darstellung von Zivilcourage vermittelt Hoffnung, dass Geschichte hier und jetzt von engagierten Bürgerinnen und Bürger geschrieben wird.
Aussergewöhnliches Engagement zeichnet auch die vier Zeitgenossen aus, die in #SRFglobal Zivilcourage 2.0 vorgestellt werden. Die SRF-Korrespondenten in den USA, der Türkei, Südostasien und Frankreich stellen je einen Menschen vor, den sie 2015 persönlich kennen gelernt haben.
- Peter Düggeli traf Kevin Moore, der in Baltimore die Verhaftung seines Freundes Freddie Gray gefilmt hatte. Dieser stirbt eine Woche später in Polizeigewahrsam, Moores Video wird zum schwer belastenden Beweismittel gegen die Polizisten, die Gray verhaftet hatten.
- Ruth Bosssart traf Fethiye Çetin ist eine türkisch-armenische Rechtsanwältin, die unerwartet zur Bestseller-Autorin avancierte, nachdem sie die Lebensgeschichte ihrer krypto-armenischen Grossmutter publiziert und damit ein Tabu gebrochen hatte.
- Barbara Lüthi traf Toe Zaw Latt, der zusammen mit den Redaktoren von «Democratic Voice of Burma» wesentlichen Anteil hatte am friedlich verlaufenen Machtwechsel und der Demokratisierung in Burma.
- Michael Gerber traf Dominique Mégard, einen pensionierten Informatiker, der in Calais täglich bei den gestrandeten Flüchtlingen ist, um ihnen mit Filmvorführungen einen Moment der Entspannung zu bieten.
Von Florian Inhauser angesprochen auf Hoffnungen für das kommende Jahr 2016, sagt Frankreich-Korrespondent Michael Gerber in #SRFglobal: «Hoffnung besteht, solange es Menschen gibt wie Dominique Mégard. Er und alle anderen ‹Gutmenschen› können das Flüchtlingsproblem zwar nicht lösen, aber es für die Betroffenen wenigstens ein wenig erträglicher machen.»
Allerdings, und darauf weist der französische Philosoph Michel Terestchenko in «Le Magazine du Monde» hin: Altruismus und «gewöhnliche Heldenhaftigkeit» sind in der Gesellschaft viel verbreiteter als man glaubt. Deshalb:
Wir sollten diese Helden nicht als Ikonen überhöhen. Wir riskieren sonst, dass Feigheit und Egoismus als Norm erscheinen.