«Schrei vor Glück!» – Zalandos schrilles Werbemotto ist mittlerweile zum geflügelten Wort avanciert. In nur wenigen Jahren ist der Online-Versandhändler zur ersten Adresse für den Kleiderkauf im Web geworden. Eine Million Schweizer Kunden kaufen auf dem deutschen Mode-Portal ein, Tendenz steigend.
Grund dafür: Per Mausklick eröffnen Zalando und Co. Zugang zu Produktwelten, mit denen auch die Einkaufsmeilen grösserer Schweizer Städte kaum mithalten können. Die Ware wird bequem übers Netz geordert, portofrei geliefert – und bei Nichtgefallen zurückgeschickt. Keine nervenden Schlangen in überfüllten Kaufhäusern, kein schmerzhafter Griff ins Portemonnaie.
Problem bekannt – aber noch weitgehend unerforscht
Doch bei vielen, vor allem Jugendlichen, kann der traumhaft unkomplizierte Kauf per Klick schnell zum Albtraum werden – und zu einem Suchtverhalten führen: «Das Thema der Kaufsucht ist allgemein noch sehr tabuisiert», sagt Renanto Poespodihardjo, Leitender Psychologe der Basler Ambulanz für Verhaltenssüchte.
Die Forschung zum E-Commerce stehe zwar erst am Anfang. Doch für Kaufsüchtige belegten bereits ältere Studien: Betroffene geben mit ihrer Kreditkarte mehr aus. Diese ist beim Online-Kauf vielerorts die übliche Bezahlmethode. «Wie bei Chips im Casino wird das Geld ‹entwertet›, die negativen Konsequenzen werden weniger stark wahrgenommen.» Zudem böten Einkaufsplattformen im Netz auch neue Finanzierungs- und damit Betrugsmöglichkeiten: «So können sich innerhalb kurzer Zeit horrende Schulden auftürmen.»
Das Thema der Kaufsucht ist allgemein noch sehr tabuisiert.
Unter seinen Klienten seien erst in den letzten 2-3 Jahren Kaufsüchtige dazu gekommen, die sich über das Internet mit Waren eindecken, sagt Heinz Lippuner, Psychologe und Experte für Verhaltenssucht: Doch auch er sieht im virtuellen Einkauf im Netz einen möglichen «Brandbeschleuniger» für ein ungesundes Konsumverhalten.
Der Aufstieg des Shoppings zur Freizeitbeschäftigung
Am Anfang der Problematik sehen die Experten aber eine Entwicklung, die über das Web hinausgeht. «Shoppen ist zur Freizeitbeschäftigung geworden. Der Druck unter Jugendlichen ist heute viel grösser, sich über materielle Dinge zu profilieren», so Lippuner.
Auch Renanto Poespodihardjo stimmt zu: «Es werden nicht mehr nur Bedürfnisse befriedigt, sondern künstlich Nachfrage geschaffen.» So sei etwa der soziale Druck gestiegen, sich alle 6 Monate ein neues Smartphone zu kaufen: «Diese Veränderung bringt auch neue Belastungen mit sich.»
Shoppen ist zur Freizeitbeschäftigung geworden. Der Druck unter Jugendlichen ist heute viel grösser, sich über materielle Dinge zu profilieren.
Gefährdet seien vor allem Jugendliche, die von ihren Eltern «gekauft» worden seien, meint Lippuner: «Probleme haben oft Heranwachsende, die als Kinder mit Geld belohnt wurden, ein Glaubenssystem entwickelt haben, das besagt: Mit Geld kannst du Probleme lösen, Macht und Anerkennung bekommen.»
Nur wenige Betroffene nehmen Hilfe in Anspruch
Psychiatrisch sei «Kaufsucht» im engeren Sinn nicht als Krankheit erfasst, und nur ganz wenige Betroffene suchten überhaupt Hilfe, sagt Poespodihardjo. Markant weniger, als etwa Spielsüchtige. Nichtsdestotrotz: Das Verhalten stelle eine Sucht dar. Am Anfang stünde oft ein geringes Selbstwertgefühl, oft auch «kompensatorische Käufe», um negative Erlebnisse zu tilgen. Besondere Gefahr bestehe, wenn Schutzfaktoren wie Freunde und Familie fehlten.
Der Kaufrausch hat dabei durchaus mit Drogen vergleichbare Wirkung: «Am Anfang steht oft der Kick, die euphorisierende Wirkung, eine Art Erregung. Wenn dieses Verhalten wiederholt wird, der Kick quasi exzessiv gekauft wird, kann Kontrollverlust eintreten. Man tut in vollem Bewusstsein Dinge, von denen man weiss, dass sie schädlich sind – und fährt fort damit. Ein Teufelskreis entsteht, bis hin zur Beschaffungskriminalität, wenn die finanziellen Ressourcen erschöpft sind.»