Seismologe John Vidale führt durch das Erdbebenwarnsystem, an dem er tüftelt. Der Direktor der Forschungsgruppe Pacific Northwest Seismic Network sitzt vor seinem Computer.
Der Bildschirm zeigt die pazifische Küste der USA. Kreise breiten sich vom Erdbebenzentrum aus, das südlich der Stadt Seattle liegt. «Diese Simulierung zeigt, wo die Schockwellen sind. So sehen wir, wann sie Seattle erreichen werden und wie stark es beben wird», erklärt er. Das System funktioniert mit Sonden, die im Boden sind und die Bewegungen messen. Es soll fünf Sekunden bis wenige Minuten vorher warnen.
Bebenstärke 9 ist möglich
Das ist wenig für das gewaltige Erdbeben, das an der pazifischen Küste im Nordwesten der USA erwartet wird. Vor der Küste stossen zwei Erdplatten zusammen und bilden den Cascadia-Graben. Sie können ein Beben der Stärke 9 auf der Richterskala auslösen – zehn Mal stärker als jenes, das weiter südlich der Sankt Andreas-Spalte entlang in Kalifornien droht.
Das Beben wäre vergleichbar wie jenes in Japan, das zur Fukushima-Katastrophe führte. Vidale sagt: «Es würde die ganze Küste vom Norden Kaliforniens bis nach Vancouver in Kanada treffen.». Brücken, Häuser, erhöhte Autobahnen würden kollabieren. Ein Tsunami würde die gesamte Küste verwüsten.
Geologische Detektivarbeit
Diese Gefahr ist erst seit gut zwanzig Jahren bekannt. Das letzte Mal ereignete sich diese Katastrophe im Jahr 1700. Die Indianer, die damals in der Region lebten, überlieferten nichts Schriftliches.
Zur gleichen Zeit ereignete sich in Japan ein Tsunami, dessen Ursprung lange rätselhaft blieb. Bis man an der pazifischen Küste der USA zu suchen begann. Dort fand man im Boden Spuren grossflächiger Überschwemmung: Reste von Indianer-Lagerfeuern und Bäumen, die zu einer bestimmten Zeit überflutet wurden etwa.
Es war Detektivarbeit japanischer und US-amerikanischer Wissenschaftler. «Sie setzten alles zusammen und heute wissen wir sogar, zu welcher Stunde an welchem Tag das Erdbeben stattfand», erklärt John Vidale.
«Heute oder in fünfhundert Jahren»
Zur Frage, wann es wieder drohe, zuckt Seismologe John Vidale mit den Schultern: «Wenn ich das nur wüsste. Aus geologischen Untersuchungen wissen wir, wann die letzten zwanzig grossen Erdbeben stattfanden. Sie taten dies in Abständen von 200 bis 800 Jahren. Das heisst: Es könnte heute geschehen - oder erst in fünfhundert Jahren.»
Was dann geschehen wird, ist praktisch unvorstellbar: Die Bauten im Nordwesten der USA sind nicht erdbebensicher – erst recht nicht jene, die gebaut wurden, bevor jemand von der Gefahr wusste. Wie zum Beispiel die alten Backsteingebäude in Seattle.
Zu Fuss auf Pirsch nach alten Bauten
Keine Frau kennt diese historischen Bauten besser als Nancy Devine. Nachts träumt sie sogar von Backsteinen. Die Ingenieurin eilt schnellen Schrittes durch die Strassen der Stadt. Sie bleibt vor einer Kirche stehen: «Ich suche Reihen von Ziegelsteinen, die zwischendurch quer auf die Mauer gelegt wurden», sagt sie. Das sei ein sicheres Zeichen dafür, dass das Gebäude nicht verstärkt sei.
Mit dieser einfachen Methode soll Devine für die Stadtverwaltung eine Liste jener Backsteinhäuser erstellen, die saniert werden müssen. Denn sie sind gefährlich: «Das Dach ist nicht am Haus befestigt. Die Wände würden sich bewegen, und das Dach würde einstürzen. ausserdem würden Ziegelsteine auf das Trottoir fallen und Menschenleben gefährden», erklärt die Bauingenieurin und eilt weiter.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. 1100 Bauten muss sie untersuchen und findet unterwegs immer wieder Häuser, die im Register fehlen. Devine hofft, vor Einbruch des Winters damit fertig zu sein.
Nur gegen mittlere Erdbeben sicher
Ihre Chefin Sandy Howard schaut aus dem Fenster im 23. Stock des Stadtverwaltungs-Hochhauses im Zentrum von Seattle. Dort steht jenseits der Autobahn ein gewaltiges rotes Gebäude, der ehemalige Konzernsitz von Amazon. «Teile davon würden abbrechen, aber es würde nicht einstürzen. Unser Ziel ist, dass die Leute das Gebäude verlassen können, wenn ein Erdbeben stattfindet», sagt die Leiterin des Gebäudeprogrammes.
Vorausgesetzt, es handelt sich um ein leichteres Erdbeben, nicht das Jahrhundert-Erdbeben. Howard lacht beim Gedanken daran nervös auf und sagt: «Wenn das geschieht, so weiss ich nicht, was mit den meisten Gebäuden in dieser Region passieren wird. Wir versuchen, die Bauten gegen ein moderates Erdbeben zu sichern.»
Nicht einmal das ist garantiert: Im Stadtrat von Seattle streiten sich die Volksvertreter darüber, wer bezahlen muss. Und was mit vielen Startup-Unternehmen und den Menschen geschehen soll, die von den tiefen Mieten in den unsicheren Backsteingebäuden profitieren. Heimatschützer wehren sich ebenfalls.
Entvölkerung der Stadt
Eric Holdeman schüttelt den Kopf ab solchen Debatten. Der frühere Notfallmanager der Region um Seattle sagt: «Diese Gebäude werden Menschen töten. Es stimmt, dass die Mieten steigen werden. Aber wenn wir sie nicht verstärken, so sagen wir den Leuten: Euer Leben ist uns egal. Öffentliche Sicherheit beginnt damit, Gebäude sicher zu machen.»
Holdeman ist Autor eines Blogs über Katastrophenvorbereitung. Von Berufes wegen hat er sich eine genaue Vorstellung darüber gemacht, was bei einem grossen Erdbeben droht: Die Brücken auf allen grossen Verkehrswegen würden kollabieren. Die Region bliebe monate-, oder vielleicht sogar jahrelang ohne grosse Transportrouten. «Wie damals bei der Überschwemmung in New Orleans wird es eine Entvölkerung der Stadt geben.»
Einen Moment vor und einen nach dem Beben
Esswaren und Menschen würden über längere Zeit nicht mehr transportiert werden können. Firmen wie der Flugzeugbauer Boeing oder die Online-Handelsplattform Amazon drohten abzuwandern und die Gegend würde eine lang anhaltende Wirtschaftskrise erleben.
Das werde die Stadt langfristig verändern, sagt der frühere Notfallbeauftragte Eric Holdeman: «Es wird einen Moment vor und einen Moment nach dem Erdbeben geben, für Seattle und für die ganze Region im pazifischen Nordwesten der USA.» Vielleicht Morgen, vielleicht in fünfhundert Jahren.