Simon Scherrer, Klimatologe beim Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz, ist als Naturwissenschaftler ein vorsichtiger Mensch. Deshalb sagt er, eine weitere Zürcher Seegfrörni sei «relativ unwahrscheinlich».
Spezielle Bedingungen
Tatsächlich gibt es kein Anzeichen, dass es jemals wieder einen so strengen Winter wie 1962/63 geben wird. Damals wurde es bereits Mitte November bitterkalt. Insgesamt drei Kälteperioden mit eisiger Bise sorgten dafür, dass sich der Zürichsee ab dem 1. Februar 1963 für mehrere Wochen in eine riesige Festhütte verwandelte.
Winter war fünf Grad zu kalt
«Ereignisse, die so wahnsinnig tiefe Temperaturen brauchen, werden sehr, sehr viel seltener», weiss Scherrer. Damit sich auf dem Zürichsee eine begehbare Eisfläche von mindestens 12 Zentimetern Dicke bildet, braucht es eine Kältesumme von 350. Die Kältesumme ergibt sich aus den kumulierten Beträgen negativer Tagesmitteltemperaturen.
Das bedeutet im Fall des Zürichsees zum Beispiel 35 Tage mit einer mittleren Temperatur von minus 10 Grad. Kleinere und seichtere Seen gefrieren eher zu: Für den Pfäffikersee im Kanton Zürich reicht bereits eine Kältesumme von 120, für den Greifensee 150.
Der Winter vor 50 Jahren war mehr als fünf Grad kälter als ein durchschnittlicher Winter. Es resultierte eine Kältesumme von 500. Seither ist die übers Jahr gemittelte Basistemperatur um rund ein Grad gestiegen, es gibt 80 Prozent mehr Sommertage, rund 30 Prozent weniger Frosttage. Deshalb, sagt Scherrer, «wird es sehr, sehr schwierig für solche Anomalien».
Aus dem Radio-Archiv
Christian Pfister, emeritierter Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Bern, teilt Scherrers Ansicht: «Ich habe zwar das Wort unmöglich aus meinem Wortschatz gestrichen, aber eine neue Seegfrörni in Zürich würde ich als äusserst unwahrscheinlich bezeichnen.»
Der letzte Februar war eine Überraschung
Bisher gab es in jedem Jahrhundert mindestens zwei, drei Mal begehbares Eis auf dem Zürichsee. Vor 1963 war das 1929 der Fall, davor 1891 und 1880. «Besonders extrem war das 15. Jahrhundert», sagt Pfister. «In den 1430er Jahren fror der Zürichsee mehrere Jahre hintereinander zu.» Zudem seien die Winter sehr brutal gewesen. Das ging damals schon Ende Oktober mit hochwinterlichen Verhältnissen los, nach einem bitterkalten November war der Zürichsee im Dezember eisbedeckt – und ging erst im April wieder auf.
«Das Extreme muss normal sein, nur so kommt eine Seegfrörni zu Stande», sagt Pfister. Der Winter 1963, für ihn «das schönste mit meteorologischen Messungen belegte Standardereignis» war mehr als fünf Grad unter dem langjährigen Mittel.
Ein extremer Monat war der Februar 2012, für Professor Pfister «ein sehr kalter Rückfall und ein überraschendes Ereignis», das erste kalte Extrem seit beinahe 30 Jahren. Resultat: Gewässer wie der Greifensee waren letztes Jahr zugefroren und begehbar.
Die Kältesumme des Winters 2012 betrug im Mittelland immerhin gegen 200. Kalt genug für relativ kleine und seichte Seen, aber längst nicht ausreichend für ein Gewässer von der Grösse des Zürichsees.
Vor 50 Jahren wurde das seltene Spektakel für einige Wochen beinahe alltäglich. Am 8. März 1963 war die winterliche Party auf dem Zürichsee wieder vorbei – wohl für immer.