Das Telefon klingelt noch häufiger als sonst in diesen Tagen in der Stube von Pfarrer Ernst Sieber. Zum 90. wollen alle was von ihm, besonders die Medien. Das mache ihm nichts aus, versichert er mit breitem Lachen und wachem Blick. Kürzer treten? davon möchte er nichts wissen.
Weisst du, warum ich 90 wurde? Weil ich nicht Sorge zu mir getragen habe.
Dennoch ist Pfarrer Ernst Sieber heute nicht mehr jeden Tag unterwegs, lässt seinen unverkennbaren Schlapphut und den Hirtenmantel auch mal in der Garderobe hängen, gönnt sich ein Schläfchen, wenn er müde ist, studiert Bibeltexte, malt – und freut sich jetzt auf seinen Geburtstag: «Ich bin froh, dass ich jetzt mit 90 mal wirklich die Möglichkeit habe, meiner eigenen Familie zu danken.»
Allen voran, gilt sein Dank seiner Frau, Sonja, mit der er seit fast 60 Jahren verheiratet ist und mit der er acht Kinder aufgezogen hat, vier eigene und vier Adoptivkinder. Ohne sie, ohne seine Familie und ohne die Hilfe der Bevölkerung und der Behörden, sagt Ernst Sieber, wäre er nie so weit gekommen, hätte nie seine über 30 Hilfsangebote und sozialen Einrichtungen aufziehen können, von der Anlaufstelle Brot Egge über den Pfuusbus für Obdachlose bis zum Sunedörfli für entzugswillige Drogenabhängige.
Gerade bei den Behörden eckte der umtriebige Pfarrer aber auch immer wieder an – oder, wie es die ehemalige Sozialvorsteherin der Stadt Zürich, Monika Stocker, einmal beschrieben hat: «Er regt auf. Ich hatte auch immer wieder erboste Mitarbeiter, die fanden, nicht der schon wieder. Da musste ich immer wieder sagen: Es gibt nur einen Ernst Sieber in dieser Stadt und mit dem werden wir fertig. Das muss man locker nehmen.»
Ha, Behördenschreck. Ich würde sagen, gottlob.
Stets stand bei Ernst Sieber der Mensch im Mittelpunkt und nicht die Vorschriften aus den Amtsstuben. Seinen Ruf als Behördenschreck nahm er damals als Kompliment.
Ernst Sieber wollte stets leben, was er predigt – das bestätigte seinerzeit auch Kirchenratspräsident Ruedi Reich: «Wenn Sie ihn hören, dann redet er sehr fromm. Und weil er deckungsgleich handelt, wirkt es glaubwürdig.»
Im eiskalten Winter 1963 wurde seine Haltung erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als er den Behörden unter dem Helvetiaplatz einen Bunker für die Obdachlosen abtrotzte. In den 1980er-Jahren war er einer der wenigen, die sich um die Drogenabhängigen auf dem Platzspitz kümmerte und mit dem Sune-Egge kurzerhand ein eigenes Spital für sie eröffnete. In den 1990-Jahren schliesslich setzte er sich auch als Nationalrat für seine Schützlinge ein. Seine Vision: Ein Bundesdorf, in dem Arm und Reich zusammenleben.
Sie können dann mal auf meinen Grabstein schreiben: Kämpft weiter, ich hab's heiter.
Eine Vision, die er gerne noch verwirklicht sähe. Dafür will er weiter kämpfen, im Bewusstsein, dass seine Arbeit weitergeht, auch wenn er einmal nicht mehr ist. Angst um sein Lebenswerk hat er aber nicht. «Überhaupt nicht!»
Und wenn der Herrgott rufe, solle es so sein. Doch halt, eine Bedingung würde er stellen: «Ich will natürlich zuerst heim. Die Sonja muss schon noch da sein, wenn ich gehe.»