Mitte April ändert sich die Welt von Irène S. von einem Moment auf den anderen: Ihr Mann sackt neben ihr zusammen und stirbt. «Ich stand wochenlang unter Schock», sagt Irène S..
Mitten in die Trauerzeit schickt die Inkassofirma Arvato Infoscore zwei Forderungen. Forderungen an ihren Mann. Uralte Forderungen eines Sexshops und eines Online-Versandhandels, beide über 20 Jahre alt.
Irène S. ist bestürzt. Aber gleichzeitig auch sicher, dass diese Forderungen nichts mit ihrem Mann zu tun haben. Denn, in den letzten Jahrzehnten gab es nie offene Rechnungen, Mahnungen oder Betreibungen. Wie die Inkassofirma auf den Namen und die Adresse ihres Mannes kommt, bleibt ihr ein Rätsel. Erst als eine Bekannte Irène S. auf das Todesanzeigenportal aufmerksam macht, dämmert es ihr.
Eidgenössischer Datenschützer hebt den Mahnfinger
Auf dem Todesanzeigenportal werden fortlaufend Todesanzeigen und Danksagungen aus der ganzen Schweiz publiziert. Ohne dass Angehörige davon wissen, ohne dass sie darüber informiert werden. Auch die Todesanzeige von Irène S. Mann findet sich dort. Für die Witwe ist klar: «Das Portal ist der Auslöser für die Inkassoforderungen.»
2018 berichtet «Espresso» über das Geschäftsmodell des Internetportals. Das Büro des eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) findet damals deutliche Worte. Das Konzept hat sich seither nicht wesentlich geändert. Silvia Böhlen, Kommunikationsspezialistin beim EDÖB, ruft Konsumentinnen und Konsumenten auf, beim Aufgeben von Todesanzeigen genau hinzuschauen – auch bei einer Zeitung: «Die Angehörigen haben das Recht zu wissen, ob eine Todesanzeige nur in der Zeitung publiziert oder auch ins Internet gestellt wird. Und sie müssen die Möglichkeit haben zu widersprechen.»
Namen und Adressen aus der Todesanzeige?
Die Frage stellt sich: Durchforsten Inkassofirme wie Arvato gezielt Todesanzeigen, um an Namens- und Adressdaten zu kommen? Arvato verneint. Sie würden Daten mit Hilfe externer Dienstleister ermitteln. Das Problem: Daten können auch falsch sein. Arvato schreibt «Kassensturz»: «Leider lassen sich aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen Identitätsverwechslungen nicht gänzlich vermeiden.» Hier hätte es sich vermeiden lassen. Ein kurzer Blick in eine Wirtschaftsdatenbank reicht und man merkt: Mit den Daten kann etwas nicht stimmen.
Falscher Adressat
Arvato gibt letztendlich nach den Fragen von «Kassensturz» und einem Brief der Witwe in einem Schreiben an Irène S. zu, dass eine Verwechslung stattgefunden hat. Hätte Irène S. die Forderungen beglichen – aus Scham oder um die Sache möglichst rasch aus der Welt zu schaffen – hätte sie für etwas bezahlt, das nicht gerechtfertigt gewesen wäre.
Deshalb der Rat von Irène S.: «Vielen geht es ähnlich wie mir. Und wenn dann plötzlich ungute Gefühle wie Misstrauen und Unsicherheit gegenüber dem Partner aufkommen, ist das schlimm. Ich möchte alle dazu ermuntern, sich zu wehren und sich nicht alles gefallen zu lassen.»
Die Forderungen sind in der Zwischenzeit auch in der Wirtschaftsdatenbank gelöscht worden.