Sarah, die eigentlich anders heisst, ist eine junge Frau Mitte 20. Ihren Alltag bestreitet sie normalerweise selbständig, auch wenn das von ihr viel abverlangt. Denn Sarah leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie ist emotional instabil, hat starke Stimmungsschwankungen, bekommt ihr Leben oft nicht auf die Reihe. Einige Spitalaufenthalte waren während akuter Krisen schon nötig – und jedes Mal bedeutete das für sie, aus ihrem Leben, das sie sich mit so viel Mühe aufgebaut hatte, wieder herausgerissen zu werden.
Irgendwann ist man nur noch die kranke Person.
Bei ihrem letzten Tief wollte sie deswegen nicht wieder in die Klinik. Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK) bot ihr eine Alternative: Im Projekt «Gastfamilien für akut Psychischkranke» bekommen Patienten die Chance, bei einer Gastfamilie ihre akute oder sich anbahnende Krise zu überstehen statt im Spital. «Wenn man eine so lange Geschichte mit Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken hinter sich hat, ist man irgendwann nur noch die kranke Person. Da ist es ein schönes Gefühl, wenn man einfach so akzeptiert wird, wie man ist», beschreibt Sarah das Gefühl, das sie in ihrer Gastfamilie hat.
Geregelte Strukturen für eine stabile Psyche
Ihre «Gasteltern» Susanne und Ruedi Eberhart bewirtschaften einen Bauernhof im Zürcher Oberland. Seit inzwischen fünf Jahren nehmen sie regelmässig Menschen wie Sarah bei sich auf, die ausdrücklich Gäste, nicht Patienten heissen. Alle suchen in ihrer psychischen Krisensituation ein ganz normales Umfeld mit geregelten Strukturen, um auch mit sich selber wieder ins Lot zu kommen. «Wir haben Milchkühe, die müssen einfach zweimal am Tag gemolken werden. Das gibt einen Rhythmus. Fast alle, die neu kommen sagen beim Antrittsgespräch, dass sie zur Ruhe kommen wollen und einen Rhythmus suchen. Dieses ganz normale Leben, das können wir ihnen bieten», sagt Ruedi Eberhart.
Dieses ganz normale Leben, das können wir ihnen bieten.
Ruedi Eberhart und seine Frau Susanne sind keine Fachpersonen, sondern wie die anderen der derzeit acht Gastfamilien einfach sozial aufgeschlossene, interessierte, tolerante und belastbare Menschen. Nur ein kleiner Teil der Familien hat einen Bauernhof, alle anderen leben in einem ganz normalen Umfeld. Das ist wichtig, können die Gäste so doch weiter ihre sozialen Kontakte pflegen, ihre Sportvereine oder auch ihren Psychologen oder Psychiater ambulant weiter besuchen, und wenn es geht sogar ihren Beruf weiter ausüben.
Wenn sie aber daheim bei ihrer Gastfamilie sind, sind sie in Gesellschaft, haben Ansprache und jemanden, der auf sie Acht gibt und oft an die einfachsten Sachen erinnert – bei Sarah zum Beispiel, das Essen nicht zu vergessen. Die Gäste dürfen, müssen jedoch in den Familien nicht mithelfen – auch nicht auf dem Bauernhof. Oft tut den Gästen doch genau das gut: «Ich weiss noch, als ich Ruedi mal beim Melken geholfen habe. Ich habe noch nie etwas so cooles gemacht. Ich musste danach direkt bei meiner Familie anrufen und sagen: Hey, rat mal, was ich gemacht habe, mega toll! Es hat mich total erfüllt», erzählt Sarah.
Lebensgeschichten wie im Roman
Auch Susanne und Ruedi Eberhart profitieren vom Austausch mit ihren Gästen und freuen sich, wenn sie der Gesellschaft etwas Gutes tun können. «Jeder bringt seine eigene Lebensgeschichte mit. Ich habe schon Lebensgeschichten erzählt bekommen, die sind wie ein Roman – hochspannend, hochinteressant. Am Tisch führen wir zum Teil tiefgehende Gespräche, zum Teil haben wir es aber auch einfach nur lustig zusammen», sagt Susanne Eberhart.
Dass es so gut läuft, kommt nicht von ungefähr: Eine gute Vorbereitung und Auswahl der Patienten gewährleistet dies. «Nicht in Frage kommen Patienten mit jeder Art von akuter Selbst- oder Fremdgefährdung, mit einer schweren Suchtproblematik oder einer ausgeprägten Essstörung. Zuerst wird bei uns im Ambulatorium geklärt, welches die Gründe für einen Aufenthalt sind und ob der Zustand des Patienten eine Aufnahme in eine Gastfamilie zulässt», sagt Eva Wirz, Oberärztin an der PUK, die das Projekt leitet. Darauf folgt das Kennenlerngespräch mit der Familie. Dabei werden auch mögliche Krisen thematisiert und wie die Familie ihrem Gast dann helfen kann.
Die Familien können uns 24 Stunden am Tag erreichen.
Im Zweifelsfall haben die Gastfamilien Experten im Rücken – auch das ist Teil des Konzepts. «Die Familien werden sehr engmaschig begleitet, alle zwei Tage telefonieren wir miteinander und hören, wo die Schwierigkeiten liegen – wenn nötig, auch öfter. Die Familien können uns 24 Stunden am Tag erreichen», sagt Eva Wirz.
Unterstützung bevor die Situation eskaliert
Auch wenn Sarah die Zeit auf dem Bauernhof geniesst – nach vier Wochen ist Schluss. Der Besuch bei den Gastfamilien ist eine Übergangslösung, um sich nach einem Spitalaufenthalt wieder auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten. Anderen hilft das Angebot, eine sich anbahnende Krise abzuwenden und einen Klinikaufenthalt zu verhindern.
Die Erfahrungen seien durchwegs gut, sagt Eva Wirz – nur ganz selten funktioniert das Zusammenleben nicht. Auswertungen bis 2012 zeigen, dass sich durch das Leben mit einer fremden Familie der Gesundheitszustand ähnlich gut bessert wie in einer Klinik. Das gesunde Umfeld und die Unterstützung der Gastfamilie hilft und die therapeutische Behandlung läuft ja weiter, einfach ambulant statt stationär. Die Patientenzufriedenheit war durchgehend höher als bei den stationären Behandlungen – allem voran die gebotene Tagesstruktur und weitere Behandlungselemente sowie nachvollziehbare Bereiche wie die Qualität des Essens und des Umfelds.
Halb so teuer wie Akutstation
Geld wird da beinahe zur Nebensache. Insgesamt kostet die Betreuung in Familien nur halb so viel wie auf der Akutstation. Für die betreuenden Familien werden die 140 Franken Unterstützung pro Tag – ausbezahlt vom Kanton und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich – sowieso nicht der allein ausschlaggebende Faktor sein. Für die ärztlichen Leistungen kommt die Krankenkasse auf. Das gute, stabile, unterstützende Umfeld in der Krise jedoch, das ist sowieso unbezahlbar.