Die «Geisterspiele» von Tokio mögen etwas klinisch wirken, und doch steht das Gastgeberland derzeit weltweit im Fokus: Seit jeher fasziniert das hoch technisierte Land in Fernost – sei es wegen seiner Küche, der elektronischen Unterhaltungsindustrie oder seinen jahrhundertealten Traditionen, die mit futuristischen Metropolen kontrastieren.
Dennoch mischt sich in unseren Breitengraden so manches Klischee unter die Faszination für Japan, wie der Journalist Martin Fritz weiss, der seit fast 20 Jahren im Land lebt. «Der Westen hat eine statische Vorstellung von Japan. Das Bild ist sehr traditionell und wandelt sich nicht.»
Kulinarische Klischees
Tatsächlich habe auch Japan eine dynamische Gesellschaft, die sich fortlaufend verändere – und dies auch kulinarisch. So gehört Reis zwar immer noch zu einer japanischen Mahlzeit. Doch die Japanerinnen und Japaner essen inzwischen mehr Brot als Reis. «Pro Kopf gibt es mehr Bäckereien als in der Schweiz.»
Und in Japan wird auch immer mehr Fleisch gegessen. Fisch ist dagegen – auf hohem Niveau – auf dem Rückzug. «Und jeder Besucher ist überrascht, wie viele Kaffeehäuser es gibt. Obwohl die Japaner ja angeblich nur grünen Tee trinken.»
Fritz’ Schilderungen zeigen: Vorstellung und Wirklichkeit klaffen auseinander, wenn es um Japan geht. Aber warum halten sich die Klischees über das Land und seine vermeintlichen Sitten und Gebräuche so hartnäckig?
«Buchautoren und auch Auslandkorrespondenten benutzen sie immer wieder, um Farbe in ihre Berichte und Schilderungen hineinzubringen», sagt der Journalist auch mit Blick auf seine Zunft. «Es ist natürlich ein tolles Kontrastmittel: Einmal diese uralte Kultur, die bis heute weiterlebt, dann dieses angebliche Hightech-Land mit bienenfleissigen Arbeitern.»
Wir kennen das Sprichwort: Der Kunde ist König. In Japan sagt man: Der Kunde ist Gott.
Dazu hat sich in den letzten Jahren die Geschichte vom ewigen Niedergang Japans durch die Vergreisung gesellt. «Doch niemand wundert sich, dass Toyota immer noch die meisten Autos verkauft.»
Raffinierte Gastfreundlichkeit
Fritz selbst schätzt an seiner Wahlheimat etwas, das auch im Zentrum der Olympischen Spiele stehen sollte – aber wegen Corona nur die Athletinnen und Athleten bekommen: «Das Angenehmste und Überraschendste ist die besondere Gastfreundlichkeit, die auf Japanisch ‹Omotenashi› heisst.»
Wobei «Gastfreundlichkeit» das falsche Wort sei, erklärt der Journalist: «Es handelt sich um einen hochwertigen Service, der versucht, die Erwartungen des Kunden noch zu übertreffen.»
Ein Beispiel: In vielen Restaurants wird dem Kunden, sobald er sich hinsetzt, ein Stofftuch gereicht, mit dem man sich die Hände reinigen oder den Schweiss abtrocknen kann. Der Clou: Im Sommer kommt es gekühlt, im Winter gewärmt. «Wir kennen das Sprichwort: Der Kunde ist König. In Japan sagt man: Der Kunde ist Gott.»
Ausnahmen bestätigen die Regel, könnte man mit Blick auf eine andere Episode sagen: So berichtet Fritz von einem Jahre zurückliegenden Erlebnis, das man in Japans strikt geregeltem ÖV nicht erwarten würde. In der U-Bahn setzte er sich neben einen Japaner, der sich breitbeinig auf dem Sitz parkierte. «Das ist aber nicht sehr höflich», liess Fritz den Sitznachbarn wissen.
Dieser erwiderte: «Mit mir willst du dich wohl kaum anlegen.» Und gab sich als Mitglied der Yakuza, der japanischen Mafia, zu erkennen, die traditionell ausländerfeindliches Gedankengut pflegt. Schliesslich verfolgte der Mafioso den verängstigten Fahrgast noch eine Weile durch die nächste U-Bahn-Station – und liess dann von ihm ab. Nicht sehr «Omotenashi».