Muttermilch-Proben von Erstgebärenden aus Bern, Biel, Freiburg, Morges und Basel zeigen: In der Muttermilch finden sich zahlreiche Umweltgifte. Die Analyse hat der Bund bei der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) bestellt – Kostenpunkt: 210'000 Franken. Bisher hat der Bund darüber geschwiegen. Bis «Kassensturz» nachfragt.
Ein durchschnittlicher, gestillter Schweizer Säugling trinkt Woche für Woche viele Dioxine. EMPA-Chemiker Markus Zennegg: «Am Anfang des Lebens ist das eine relativ deutliche Belastung.» Auch das umstrittene Triclosan wies die EMPA nach.
Dioxine und die dioxinähnlichen PCB gelten als hochproblematisch: In Tierversuchen können sie Fruchtbarkeit, Immunsystem und Entwicklung des Gehirns schädigen. «Diese Stoffe reichern sich im Fett der Muttermilch an», so Zennegg, «sobald die Mutter stillt, mobilisiert sie das Fett, der Säugling nimmt vor allem am Anfang hohe Konzentrationen dieser Stoffe über die Muttermilch auf.»
Dabei handelt es sich vorab um Altlasten, die in Fabriken entstanden und in Chemikalien verwendet wurden. Beides wurde durch Filter und Totalverbote verbessert. Und die Analyse der EMPA zeigt: Das wirkt. Die Werte sind auf einen Sechstel des Niveaus der 90er-Jahre gesunken.
Dioxine gefährlicher als gedacht
Doch: Dioxine sind toxischer, als die Forschung angenommen hat. 2017 veröffentlichte die Universität Harvard gemeinsam mit russischen Forschern die «Russian Children Study», eine Langzeitstudie russischer Buben. «Sie zeigt erstmals, dass die Dioxine schon bei sehr niedrigen Konzentrationen die Spermienqualität beeinträchtigen», erklärt Lothar Aicher vom Schweizerischen Zentrum für angewandte Humantoxikologie der Universität Basel.
Behörde senkt Richtwert stark
Die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, auf deren Risiko-Bewertungen sich auch die Schweiz stützt, senkte darauf die langfristige, tolerierbare Aufnahmemenge deutlich: Von 14 Pikogramm pro Kilo Körpergewicht pro Woche auf nur noch 2 Pikogramm (1 Pikogramm = 1 Billionstel Gramm). Ein Erwachsener in der Schweiz liegt damit siebenmal über dem neuen Grenzwert.
Ein gestillter Säugling nimmt gemäss der neuen EMPA-Analyse gar durchschnittlich 294 Pikogramm pro Kilo pro Woche auf. Einen aktuellen Richtwert für Säuglinge gibt es nicht. Zieht man jenen für Erwachsene heran, überschreitet ein Schweizer Säugling diesen somit um das 150-fache. Doch auch den viel älteren Zielwert der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2000 überschreiten Babys in der Schweiz, die sich nur von Muttermilch ernähren, um das 42-fache.
Eine Medienmitteilung ist nicht notwendig.
WHO: Vorteile überwiegen Risiken deutlich
Was heisst das für das Stillen? Laut Weltgesundheitsorganisation liegen die Dioxine in der Muttermilch weltweit deutlich über den Sicherheitsstandards. Dennoch sei der Nutzen des Stillens deutlich grösser als die Risiken. Markus Zennegg von der EMPA: «Kinder haben durch die Übertragung von Immunoglobulinen ein stärkeres Immunsystem und viel weniger Allergien. Dieser positive Effekt überwiegt klar, zumal das Baby ja nur während einer kurzen Zeit eine deutlich höhere Belastung hat.»
Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) teilt mit, die Studie sei publiziert worden und stehe «zur Verfügung». Das heisst: Es hat sie auf eine Datenbank des Bundes gestellt. Eine Medienmitteilung erachtet das BAFU als nicht notwendig.