Manager, die morgens um vier um den See joggen. Vollzeitangestellte, die über Mittag mit einem Salätchen ins Yoga gehen oder nach Feierabend Gewichte stemmen. Der Historiker Jürgen Martschukat hat den ungebrochenen Fitnessboom im Licht der liberalen Wettbewerbsgesellschaften untersucht.
SRF News: Wann haben die Menschen begonnen, Sport zu treiben, statt sich von der Arbeit auszuruhen?
Jürgen Martschukat: Eine erste Fitnesswelle ist im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert zu beobachten, als die Menschen anfingen, an sich selber zu arbeiten und zu trainieren. Erstmals wurde der Körper als krisenhaft empfunden und man meinte, ihn stärken und stählen zu müssen. Ganz nach dem Motto: Schneller, leistungsfähiger, besser und auch schöner. Ich interessiere mich vor allem für die zweite Fitnesswelle ab den 1970er-Jahren in den westlichen Gesellschaften.
Seit 50 Jahren wird also Sport nicht mehr nur zum Spass betrieben?
Das ist richtig. Wobei die Arbeit an sich selber für bessere körperliche Leistungsfähigkeit und vielleicht auch mehr Erfolg durchaus Spass machen kann. Der Trick dabei: Auch «Spass haben» ist in eine Wettbewerbsgesellschaft eingebettet, die will, dass wir das Beste aus uns herausholen.
Auch «Spass haben» ist in eine Wettbewerbsgesellschaft eingebettet, die will, dass wir das Beste aus uns herausholen.
Es ist wohl kein Zufall, dass allgemein der englische Begriff «Fitness» verwendet wird?
Bis in die 1960er-Jahre war der Begriff «Fitness» im deutschen Sprachraum eher unbekannt. Seit dem späten 19. Jahrhundert sprach man vor allem von «Tüchtigkeit». Ganz wichtig für den Fitnessbegriffs war der Evolutionstheoretiker Charles Darwin und dessen Einfluss auf die ab den 1860er-Jahren entstehenden Sozialwissenschaften.
Hat der Fitness-Boom in den USA begonnen?
Ganz klar ist die Welle in den 1970er-Jahren in den USA mit grossem Schwung gestartet und dann verzögert in Westeuropa angekommen. Das hat damit zu tun, dass der neoliberale Kapitalismus in den USA und den angelsächsischen Ländern mit mehr Wucht eingesetzt hat als hierzulande.
Ist Fitness ein reines Phänomen des Kapitalismus?
Es gibt zwei Ebenen: Zum einen ist Fitness sehr eng mit dem Design liberaler Wettbewerbsgesellschaften verbunden, die auf erfolgreiche Subjekte und deren Marktförmigkeit setzen. Zwar treiben Menschen auch in nichtkapitalistischen Gesellschaften Sport. Doch deren Aktivität ist weniger auf den individuellen Erfolg und ein selbstverantwortliches Arbeiten ausgerichtet. Zum anderen hat die Fitness-Industrie in den letzten 50 Jahren einen riesigen Markt geschaffen.
Fitness ist sehr eng mit der liberalen Wettbewerbsgesellschaft verbunden, die auf erfolgreiche und marktkonforme Subjekte setzt.
Eine «Body Positivity»-Bewegung in den USA ermuntert Übergewichtige, zu sich selbst zu stehen. Ist das ein Gegentrend zur Fitnesswelle?
«Body Positivity» zeigt, dass sich sehr viele Leute der normativen Kraft der Fitness nicht fügen wollen. Denn diese kategorisiert immer auch moralisch und sagt, welches Verhalten und welcher Körper gut beziehungsweise schlecht sind. Es ist kein Zufall, dass diese Haltung zusammen mit der Fitnessbewegung entstanden ist. Es sind zwei Seiten einer Medaille.
Ist ein Ende des Fitness-Zeitalters absehbar?
Nein. Aber neben «Body Positivity» gibt es immer mehr Stimmen, die die Verteufelung des Dickseins und den Fetisch des Dünnseins kritisieren. Auch in der medizinischen Fachliteratur wird vermehrt und ernsthafter Kritik an Diäten geübt, weil sie unzufrieden machen. Das ist schlecht für Gesundheit und Lebenserwartung. Auch wird postuliert, dass gewisses Mass an Körperfett der Lebenserwartung und -zufriedenheit durchaus zuträglich ist.
Es gibt immer mehr Stimmen, die die Verteufelung des Dickseins und den Fetisch des Dünnseins kritisieren.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.