Schuld an allem ist ein Blässhuhn-Männchen mit einem Kunststoffbecher im Schnabel. Auke-Florian Hiemstra entdeckte das Tier auf einer seiner wöchentlichen Plastiksammeltouren durch die beschaulichen Grachten in der niederländischen Kleinstadt Leiden. «Der tut das gleiche wie ich», ging dem 29-jährigen Biologen durch den Kopf. «Der sammelt auch Plastik.»
Hiemstra beobachtete, wie der Wasservogel tagelang auf den Grachten treibende Kunststoffutensilien einsammelte und damit ein Nest baute. Das heisst, das Männchen übernahm den schwimmenden Part, während das Weibchen mit dem erbeuteten Abfall das Nest dekorierte: «Sie ist die Interieurdesignerin», erklärt der Wissenschafter.
Nestinhalt kommt in eine Excel-Tabelle
Der junge Niederländer war so fasziniert von diesem Schauspiel, dass er beschloss, eine Doktorarbeit über dieses Thema zu schreiben. Er will herausfinden, was Plastik auf die «Taucherli» für einen Effekt hat und wie sich die Wasservögel an die neuen Materialien anpassen.
Mithilfe des niederländischen Publikums hat er nach der letzten Brutsaison landesweit 130 Blässhuhn-Nester eingesammelt. Nun untersucht er im Naturkundemuseum Naturalis in Leiden deren Inhalt, wobei er sämtliche Schnipsel und selbst die kleinsten Fetzchen detektiert und sie fein säuberlich auf einer Excel-Tabelle einträgt.
Kondome und Kokain-Wickel
Am häufigsten sammeln Blässhühner Strohhalme, zerrissene Verpackungen von Süssigkeiten, Teile von Schaumstoff-Behältern vom Schnellimbiss – aber auch etwa Gesichtsmasken. Letztere seien sehr problematisch, weil sich die Tiere mit ihren Füssen im Elastik verheddern könnten. In Amsterdamer Nestern fand Hiemstra aber auch Plastiktüten für Gras, Kokain-Wickel («meistens sind sie leer») und Kondome.
Inzwischen hat der engagierte Biologe so viele Nester untersucht, dass er deren Inhalte vergleichen kann. Er weiss jetzt, dass Blässhühner in Amsterdam stabilere Nester bauen als ihre Artgenossen in Leiden.
Plastikblumen im Wasservogelnest
«Wir haben in der Hauptstadt 9 Meter lange Spannbänder für Postpakete gefunden, die dreimal um ein Nest geschlungen waren», erzählt er begeistert. Dadurch werde eine Brutstätte so stark, dass sie ohne weiteres dem ständigen Wellenschlag der Grachtenrundfahrtboote standhalten könne. Für ihn ist dies ein Beweis, dass die vielerorts als bünzlig geltenden Blässhühner eben doch sehr besondere Tiere sind.
Trotzdem geben ihm die Wasservögel auch Rätsel auf. Bis heute kann er nicht schlüssig erklären, weshalb er in den Nestern der Blässhühner immer wieder Plastikblumen findet.
Echte Natur?
Er habe inzwischen einen ganzen Strauss, lacht der Biologe, um sogleich ernsthaft die Frage zu stellen: «Denkt so ein Wasservogel etwa, er habe endlich ein Stück echte Natur gefunden?»
Noch bleiben Auke-Florian Hiemstra drei Jahre, bis er seine Doktorarbeit abgeben muss. Ob diese Zeit reicht, um die «Blumenfrage» zu beantworten, wird sich weisen müssen.