Die nackten Fakten zum humanen T-lymphotropen Virus 1 (HTLV-1) alarmieren. Nach konservativen Schätzungen gibt es weltweit zwischen fünf und zehn Millionen Infizierte, es könnten aber auch bis zu 20 Millionen sein. Das Virus ist verwandt mit HIV und es löst Krebs aus. Wie HIV wird es hauptsächlich durch Sex übertragen. Es gibt weder einen Impfstoff noch ein Heilmittel.
Alarmierendes Unwissen
Etwa 90 Prozent der Betroffenen tragen das Virus in sich, ohne jemals etwas zu merken. Bei etwa zehn Prozent der Infizierten löst HTLV-1 allerdings eine schwerwiegende Krankheit aus. Rund die Hälfte von ihnen entwickelt die sogenannte adulte T-Zell-Leukämie – teilweise erst nach Jahrzehnten.
Dabei handelt es sich um eine aggressive Krebserkrankung, die in der Regel innerhalb von wenigen Monaten zum Tod führt. Weitere 3-5 Prozent der Infizierten entwickeln eine degenerative Erkrankung, die Multipler Sklerose ähnelt. Auch sie ist nicht therapierbar.
Offener Brief an die WHO
«Es ist Zeit, HTLV-1 auszurotten», fordern nun 60 Forscherinnen und Forscher in einem offenen Brief an die Weltgesundheitsorganisation WHO . Viel zu lange habe die internationale Gemeinschaft die Ausbreitung der Krankheit tatenlos hingenommen. Der deutsche Molekularbiomediziner Kai Kupferschmidt bestätigt: «Die Forscher sind besorgt.»
Die Kombination aus geringem Wissenstand über das Virus und seiner grossen Verbreitung sei eine «Quelle der Angst» unter den Forschern, so Kupferschmidt. Sie seien wohl auch von schlechtem Gewissen getrieben. Denn das Virus wurde schon 1980 – also vor bald vierzig Jahren – entdeckt. Seither ist wenig passiert.
Der Vergleich mit HIV hinkt
Die Forscher, die sich an die WHO gewendet haben, stellen Vergleiche zu HIV an, das Aids auslösen kann. Kupferschmidt bestätigt die Verwandtschaft: Beides seien Retro-Viren, also Viren, die ihr eigenes Erbgut in dasjenige des Menschen integrieren können. Auch die Art, wie die Viren übertragen werden, gleiche sich. Beide werden beim Sex übertragen, aber etwa auch von infizierten Müttern auf ihre Kinder oder bei Bluttransfusionen und Transplantationen.
Trotzdem gilt es für Kupferschmidt, die Relationen zu wahren. Das Virus sei zwar lange unterschätzt worden, der Vergleich mit HIV hinke aber: «Bei HIV ist die Situation viel dramatischer. Es war wohl eine der schlimmsten Epidemien, die die Menschheit je erlebt hat.» Und im Gegensatz zu HTLV-1 würde bei HIV langfristig fast jeder Infizierte auch erkranken, falls er keine Medikamente bekommt.
Nur wenn eine Krankheit Aufmerksamkeit bekommt, wird auch Geld investiert.
Es bleibe abzuwarten, wie sich die Situation um das unterschätzte Virus weiterentwickle, sagt der Wissenschaftsjournalist. Der Appell der Forscher ziele derzeit vor allem darauf ab, ein neues Bewusstsein zu schaffen. Bislang figurierte das Virus nämlich nicht einmal auf der Liste der sexuell übertragbaren Krankheiten der WHO.
Für Kupferschmidt ist klar: «Nur wenn eine Krankheit Aufmerksamkeit bekommt, wird auch Geld investiert» – sei es in die Diagnostik oder in die Erforschung neuer Medikamente. Denn in beiden Feldern gibt es viel nachzuholen.