Leben mit dem Tourette-Syndrom ist ein Leben unter ständigem inneren Druck: Die Tics zu unterdrücken ist, wie den Dampf im Dampfkochtopf am Entweichen zu hindern – bis das Überdruckventil schliesslich nachgibt, Dampf ablässt und den Druck verringert. Genau das geschieht bei Menschen mit Tourette-Syndrom: Ihnen ist klar, dass sie mit unangebrachten Lauten, Bewegung oder Aussagen anecken. Halten sie ihre Tics eine Weile zurück, entladen sie sich dann oft aber nur mit umso grösserer Wucht.
Drei Betroffene berichten, wie es sich mit dem Tourette-Syndrom lebt.
Dylan, 19
Dylan ist ein Selfmade-Man in Sachen Informatik, Mechanik oder Elektronik: Es gibt nichts, was er nicht reparieren kann. Nur bei sich selbst mag ihm das nicht so recht gelingen. Seit seiner frühen Schulzeit kämpft er gegen seine Tics. Erst begann er ständig zu hüsteln. Dann kamen die Laute hinzu, die er nicht unterdrücken konnte und immer und immer wieder wiederholte und unkontrollierte Zuckungen.
«Es ist eine ungerechte Krankheit, weil man sich nicht unter Kontrolle hat. Ein Tick ist ein Automatismus. Manchmal, wenn ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, kontrolliere ich mich einen Moment lang. Dann geht es plötzlich nicht mehr und es bricht heraus. Das ist der Moment, wo es Probleme gibt. Seit etwa drei Jahren bin ich nicht mehr Zug gefahren, weil das wirklich eine Herausforderung ist.
Manche glauben, dass ich mich über sie lustig mache. Aber unser Körper hat seine eigene Logik.
Die Leute verstehen das nicht. Wenn ich über meine Krankheit spreche, dann deshalb, weil ich ihnen zeigen will, um was es geht. Damit sie verstehen, was man durchmacht. Manche glauben, dass ich mich über sie lustig mache. Aber unser Körper hat seine eigene Logik. Das hinderte mich daran, eine Ausbildung zu machen und eine Anstellung zu haben wie jeder andere auch. Dabei wäre der beste Weg zu einem normalen Leben, dass man mich so akzeptiert, wie ich bin.
Ich kenne meine Krankheit, und ich habe mir gesagt: Weshalb nicht lernen, mit ihr zu leben? Es ist ein Kampf. Man ist ständig bemüht, dieses Syndrom zu besiegen. Aber für meine Freundin gehört das einfach zu mir. Es ist meine Persönlichkeit. Sie bemerkt die Tics nicht mehr. So ist es auch für die meisten meiner Freunde. Sie sind mit mir zusammen, als ob nichts wäre. Wenn ich keine Tics mehr hätte, fänden sie es wohl bizarr.»
Gregory, 34
Alle vom Tourette-Syndrom Betroffenen erzählen die gleiche Geschichte: Bereits vor dem ersten Blick löst allein schon die Anwesenheit von anderen Menschen Unbehagen aus. Bei Gregory machte es sich mit neun, zehn Jahren zuerst mit gellenden Schreien Luft. Weil das in der Schule störte, lösten mit der Zeit andere Tics die Schreie ab. Heute führt Gregory ein fast normales Leben mit einer Arbeit, bei der er den ganzen Tag von anderen Menschen umgeben ist.
«Allein schon der Fakt, jemanden beispielsweise im Auto neben mir zu haben, löst Stress und eine Spannung aus, die auf der ganzen Fahrt erhalten bleibt. Hinzu kommt das möglicherweise fehlende Verständnis, der Stress der anderen Person, weil es Menschen gibt, die vielleicht nicht verstehen.
In der Schulzeit war das besonders schwer. Wenn ich die Zeit zurückspule in meinem Kopf und versuche, mich zu erinnern, wie oft ich heimgekommen bin, wenn es in der Schule schlecht gelaufen ist – da willst du nur noch dein eigenes Grab schaufeln und dich hineinwerfen, so krass ist das.
Ich selber lache mich auch krumm, wenn ich andere Patienten sehe, die Tourette haben.
Trotzdem rede ich in Bezug auf das Tourette-Syndrom nicht gerne von Ungerechtigkeit, weil ich es nicht so empfinde. Das ist eine Krankheit. Punkt. Man kann den Kopf hängen lassen oder man setzt sich hin und macht dann etwas, um damit zu leben, voranzukommen und diese Ungerechtigkeit ausser Acht zu lassen. Vielleicht, wenn ich ausgehe, kennt mich eine Person nicht. Vielleicht lacht sie einmal – aber irgendwie ist lachen auch eine Art zu akzeptieren. Ich selber lache mich auch krumm, wenn ich andere Patienten sehe, die Tourette haben. Das amüsiert mich. Und dann akzeptierst du es und alles geht viel besser.»
Tamara, 36
Tamara hatte mit einer besonders ausgeprägten Form des Tourette-Syndroms zu kämpfen, die erst mit 18 erstmals auftrat. Davor hatte sie eine ganz normale Kindheit und Jugend, schloss ihre Schule und Ausbildung ab – bis das Tourette-Syndrom ein normales Leben für sie unmöglich machte. Vor vier Jahren wurde ihr deshalb ein Hirnschrittmacher zur tiefen Hirnstimulation eingesetzt. Dabei werden Elektroden an definierte Stellen im Gehirn eingeführt und über feine Drähte mit einem implantierten Versorgungs- und Steuersystem verbunden – nach dem Prinzip eines Herzschrittmachers. Gerade für sehr schwere Fälle ist das die letzte Hoffnung. Allerdings: Zwei von zehn Fällen sprechen auf die tiefe Hirnstimulation nicht an – warum, ist unklar. Tamara allerdings profitierte.
«Ich habe obszöne und vulgäre Wörter ausgestossen und sie oft wiederholt, Laute von Tieren nachgeahmt, geschrien, Gesten gemacht. Wenn jemand ein besonderes Lachen hatte, habe ich es nachgeäfft. Wenn ich einen bizarren Lärm hörte, habe ich ihn imitiert. Aber man ist nicht verrückt, man nimmt alles wahr, was man tut – jeden Lärm den man macht, jeden Tic, jede Geste, jedes Wort. Ein paar Sekunden vorher schon ist man sich dessen bewusst, aber man kann es nicht zurückhalten. Es ist dann nicht so, dass die Leute sagen: Ah, du hast das Tourette-Syndrom, du sagst obszöne und vulgäre Wörter. Die Leute sind nicht böswillig, aber sie schauen. Eigentlich mag ich es aber, unbemerkt zu bleiben - das kannst du vergessen.
Ich habe das Gefühl, ich beginne langsam wieder zu leben.
Inzwischen sind meine Tics viel weniger, das bemerkt auch mein Umfeld. Ich bin ruhiger, entspannter, und habe wieder mehr Lust, Dinge zu unternehmen. Ich bin zuversichtlich. Ich habe das Gefühl, ich beginne langsam wieder zu leben.»