Das Deutschschweizer Wort des Jahres ist «systemrelevant». Dieses Wort habe in diesem Jahr polarisiert, begründet Jurypräsidentin Marlies Whitehouse von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) den Entscheid: «Einerseits hat der Bundesrat bestimmt, welche Sektoren unabdingbar sind für die Gesellschaft und für die Wirtschaft. Andererseits hat sich jeder Einzelne gefragt: Bin ich nicht auch relevant in diesem System?»
Ein Volltreffer ist das Wort auch, weil es 2020 eine dramatische Bedeutungsverschiebung erfuhr. In seiner ersten Karriere, während der Finanzkrise um 2008, bezog es sich ausschliesslich auf Grossbanken. Diesen Frühling erhielten urplötzlich Pflegepersonal und Verkäuferinnen die Auszeichnung der Systemrelevanz. Trotz pandemischem Applaus hat sich allerdings an den tiefen Einkommen in diesen Berufen nichts geändert.
«Maskensünder» auf Rang zwei
Das Wort befremdet auf den ersten Blick, denn kaum jemand hat es auf dem Radar. Jedenfalls nicht im Vergleich mit Dauerbrennern wie «Corona» oder «Maskenpflicht». Aber die Jury entscheide, so Marlies Whitehouse, nicht einfach nach der Häufigkeit eines Wortes. Die Wörter des Jahres sollen einen Diskurs zusammenfassen und zugleich zum Denken anregen. «Maskensünder» ist ein neues Wort, das in der Schweiz besonders oft gebraucht wird – und das mit dem Stichwort «Sünde» sogar an eine biblische Seuche gemahne.
Was ist mit «Vaterschaftsurlaub»?
Die Jury diskutierte lange über «Ständemehr» und «Vaterschaftsurlaub». Aber schliesslich schaffte es mit «stosslüften» doch ein weiteres «Coronawort» unter die ersten Drei. An diesem Thema kam 2020 nichts vorbei. Genauso wenig wie in den Jurys der anderen Landessprachen: Zwölf von zwölf Schweizer Wörtern des Jahres haben einen Bezug zur Corona-Pandemie.
Umfassende Verantwortung
Hinter «Pandemia» auf Rang eins wählte die italienischsprachige Jury «Responsabilità». Damit ist nicht bloss verantwortungsvolles Handeln jedes Einzelnen gemeint: Zuhause bleiben, Maske tragen etc. Es ist auch – Stichwort Konzernverantwortungsinitiative – die Verantwortung der Wirtschaft für ihr Handeln gemeint.
Ähnlich breit soll das Wort «luttes» (Kämpfe) verstanden werden, das die französischsprachige Jury auf Rang drei setzte. «Luttes» stehe für den Kampf gegen die Pandemie, aber genauso für den feministischen Kampf, für den antirassistischen Kampf und für den Klimakampf, die alle in diesem Coronajahr auch ein Thema waren.
Was sagt uns der Coronagraben?
Überraschend ist das Wort des Jahres in der Romandie: «Coronagraben». Ein deutsches Wort. Geht das gegen die Diskussionen, warum welsche Kantone oft höhere Fallzahlen haben als Deutschschweizer Kantone? Nein, sagt Marlies Whitehouse. Es gehe nicht um eine Ausweitung des Röstigrabens in Coronazeiten, sondern darum, dass im selben Land zur selben Zeit unterschiedliche Massnahmen gegen die Pandemie getroffen wurden und die Menschen deshalb verschiedene Realitäten erlebten.
«Positiv» wird negativ
Ein anderes Zeichen setzt die rätoromanische Jury mit der Wahl von «positivitad» als eines ihrer drei Wörter des Jahres. Dass ein lebensbejahendes Wort wie «Positivität» im Kontext von «Corona» eine so negative Bedeutung bekommt, ist typisch für die Misere dieser Krise. Es zeigt, dass nichts mehr so ist, wie es eben noch war.