Marion Suppiger war 47 Jahre alt, als sie eine neue Stelle im Pflegebereich antrat. Doch im neuen Umfeld fühlte sie sich überfordert. Bereits seit mehreren Jahren hatte sie immer wieder depressive Verstimmungen. Der neue Job brachte das Fass zum Überlaufen. Nach wenigen Monaten wurde bei ihr ein Burnout diagnostiziert.
Es folgten eine Einlieferung in die Rehaklinik Gais im Kanton Appenzell Ausserrhoden und intensive Psychotherapie. Marion Suppiger ging es bald so schlecht, dass ihre Psychologin ihr Antidepressiva empfahl. «Ich war nicht begeistert und habe mich zuerst mit Händen und Füssen gewehrt», sagt sie. «Ich wollte das nicht. Aber später habe ich mir es noch einmal überlegt und fand, ein Versuch sei es wert.»
Nebenwirkungen liessen nicht auf sich warten
Die Medikamente halfen ihr, klarer zu denken und sich mit ihrer Situation auseinander zu setzen. Doch sie hatten auch Nebenwirkungen. Zuerst war Marion Suppiger zehn Tage lang übel. Als die Übelkeit vorbei war, kamen die Fressattacken.
Ich hatte mich nicht im Griff, konnte nicht aufhören zu essen. Das war das Schlimmste.
«Ich habe in der Zeit sehr viel zugenommen. Ich hatte mich nicht im Griff, konnte nicht aufhören zu essen. Das war das Schlimmste. Ich sah, wie mein Gewicht auf fast 100 Kilogramm stieg. Ich stand vor den Kühlschrank, und wie eine Schwangere habe ich alles gegessen, was ich fand. Die Wienerli mit dem Erdbeerjoghurt. Egal, Hauptsache essen.»
Trotzdem: Suppiger ist froh, dass sie sich überreden liess. Die Medikamente können eine Depression nicht heilen, doch sie ermöglichten es ihr, zusammen mit ihrer Psychologin die Gründe für ihr Burnout aufzuarbeiten und sich wieder in die Arbeitswelt zu integrieren.
Das Absetzen erweist sich als schwierig
Nach zwei Jahren in Behandlung fühlte sich Suppiger wieder gut – und entschied, die Medikamente in Eigenregie abzusetzen. Das misslang. «Ich habe versucht, die Dosis langsam zu reduzieren, aber es ging nicht gut. Es war ganz schlimm. Ich hatte Stimmungsschwankungen. War für meine Umwelt und auch für mich selbst fast nicht mehr zu ertragen.»
Zwei Mal hat sie so vergebens versucht, von den Antidepressiva loszukommen. Dabei fiel sie immer wieder zurück in eine Depression.
Suppiger ist kein Einzelfall. Sogenannte Absetzersymptome, bei welchen Personen nach dem Absetzen von Medikamenten wieder in eine Depression fallen, sind häufig. Die genauen Ursachen sind noch wenig erforscht.
Neue Studien zur Absetzung von Antidepressiva
Laut einem Bericht der «NZZ» suchen Forscher der Universität und der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Wissenschaftern der Berliner Universitätsklinik Charité derzeit nach messbaren Markern, anhand derer man vorhersagen kann, ob ein sicheres Absetzten der Medikamente möglich ist.
80 Freiwillige, die ihre Medikamente absetzen wollen, werden über sechs bis neun Monate begleitet. Dabei werden bestimmte Denkmuster, die Hirnaktivitäten und genetische Merkmale untersucht. Die Forscher hoffen, in Zukunft genauere Prognosen machen zu können, wie Patienten auf ein Absetzen der Medikamente reagieren.
An einer solchen Studie hat auch Marion Suppiger teilgenommen. «Meine Psychologin hat mir einen Prospekt gegeben von einer Absetzungsstudie. Ich dachte mir, das sei ein guter Ansporn, denn es wäre wohl wie ein Gesichtsverlust, wenn ich während dieser Studie abbrechen würde.»
Antidepressiva unterstützen einen. Aber heilen muss man sich selber.
Tatsächlich gelang es Suppiger so, die Antidepressiva nach fünf Jahren abzusetzen. Das war ihr sehr wichtig, denn sie wollte um jeden Preis vermeiden, bis an ihr Lebensende Medikamente einnehmen zu müssen. «Antidepressiva heilen nicht. Sie unterstützen einen. Aber heilen muss man sich selber.»