Die Wetterextreme häufen sich, Klimaforscher werden von den Entwicklungen in manchen Weltgegenden überrascht – sind das die Vorboten eines kippenden Klimas? Der Klimaforscher Nicolas Gruber und Politologin Karin Ingold beleuchten die Frage im Gespräch von zwei Seiten.
SRF: Seit Messbeginn in den fünfziger Jahren gab es Wetterphänomene wie den El Niño Costero in Peru zweimal in einem Jahrzehnt. Seit den 90iger Jahren kehrt er fast jedes Jahr wieder. Ist das für den Klimaforscher beunruhigend?
Nicolas Gruber: Auf jeden Fall. Wenn ein solch starker Trend auftaucht, dann versuchen wir, die Gründe herauszufinden, die dazu geführt haben. Wir bringen auch ein lokales Phänomen, wie den El Niño Costero, in einen grösseren Zusammenhang und vergleichen diesen zum Beispiel mit dem «richtigen» El Niño, der in vielen Teilen der Welt spürbar ist. Im Moment erleben wir da einige Überraschungen, was den Zeitpunkt und die Häufigkeit des Auftretens betrifft. Die Ursachen sind noch nicht vollständig verstanden, könnten aber auch einfach zufälliger Natur sein.
Gibt es so etwas wie einen Moment, in dem das Klima kippt?
Gruber: Es gibt weltweit mehrere örtliche Brennpunkte, die kippen können. Wir nennen sie Tipping Points. Zum Beispiel schreitet das Abschmelzen des Meereises in der Arktis, und des Eises auf Grönland schneller voran, als wir angenommen haben. Der Grund sind Rückkoppelungen. Wenn beispielsweise das Meereseis abschmilzt, absorbieren die nun offenen Ozeane die Sonnenenergie. Dies führt zu einer weiteren Erwärmung und das wiederum zum weiterem Abschmelzen des Eises. Oder mit einem Bild erklärt: Stellen Sie sich eine Kugel auf einer Fläche vor. Hebt man die Fläche an, kommt die Kugel ins Rollen. Je mehr sich die Fläche neigt, desto schneller wird die Kugel, bis die Kugel über den Rand schiesst und zu Boden fällt. Das Kippen des arktischen Meereises, das heisst dessen vollständiges Verschwinden im Sommer hätte drastische Folgen, nicht etwa nur für die Arktis, sondern für das gesamte Klima der Welt.
Wie entscheiden Politiker angesichts solcher Veränderungen?
Karin Ingold: Nehmen wir das Klimaabkommen von Paris. Da gab es auf einmal ein Zusammengehörigkeitsgefühl der politischen Elite. Man war sich einig, dass nur gemeinsam etwas effektiv gegen die Erwärmung unternommen werden könnte. Zuhause in den nationalen Gremien, also dort, wo ein internationales Abkommen umgesetzt werden muss, argumentierten die Entscheidungsträger wieder anders: Grundsätzlich findet man es zwar gut, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, aber die verschiedenen politischen Lager sind sich überhaupt nicht einig darüber, wie und auf wessen Kosten.
Können sich Regierungen auf solche Ereignisse überhaupt vorbereiten?
Ingold: Schon bei weniger komplexen Problemstellungen zeigt sich, dass präventives Agieren auf ein mögliches Ereignis politisch schwierig umsetzbar ist. Dazu kommt, dass Politiker innerhalb von vier oder fünf Jahren wiedergewählt werden wollen. Langfristige Massnahmen ohne schnell spürbare Ergebnisse sind deshalb bei Politikern nicht beliebt. Ausserdem finden die Ursachen der Klimaerwärmung oft nicht am gleichen Ort statt wie die Auswirkungen. Örtlich begrenzte politische Einheiten sind oft mit globalen Herausforderungen überfordert.
Zurück zur rollenden Kugel: Können Klimaereignisse über diesen Kipp-Punkt hinaus noch abgewendet werden?
Gruber: Das ist eine schwierige Frage, denn der Prozess wird schon in Gang gesetzt, bevor die Kugel den Kipp-Punkt erreicht hat. Es ist eine Herausforderung für uns, herauszufinden, wo diese kritischen Punkte sind. Wir arbeiten daran, Schwellenwerte festlegen, die wir nicht überschreiten sollten. Genau solche Überlegungen haben dazu geführt, dass wir uns auf die zwei Grad als minimales Ziel geeinigt haben. Denn wir haben gesehen: Wenn sich die Erde deutlich mehr als zwei Grad erwärmt, dann werden wir etliche von diesen Kipp-Punkten erreichen.
Welche sozialen Konflikte kommen da auf uns zu?
Ingold: Bei Unwetter-Ereignissen werden ganze Regionen verwüstet, überschwemmt, unbrauchbar. Das Land wird knapper. So entstehen beispielsweise Konflikte rund um die Ressourcen Land und Wasser zwischen der Landwirtschaft und der urbanen Bevölkerung. Solche Konflikte kommen auch in der Schweiz vor. Beispielsweise möchten kantonale Behörden Fliessgewässern mehr Raum geben; gerade bei Hochwasserereignissen braucht es Überschwemmungsflächen die nicht in Siedlungsgebiete, aber typischerweise in landwirtschaftlichen Zonen ausgeschieden werden. Die Behörden zwingen also landwirtschaftliche Betriebe, ihren Raum freizugeben; was unweigerlich zu Konflikten führt. Ein anderes, globaleres Problem ist die Migration. Künftig haben wir mehr Klimaflüchtlinge zu erwarten. Räumliche Konflikte werden also verstärkt auftauchen und uns beschäftigen.
Das Gespräch führte Christoph Keller. Die lange Radio-Version wurde für die schriftliche Version zusammengefasst.