Normalerweise hört man in Moskau vor allem Autolärm. Die russische Hauptstadt ist ein Ort, an dem es viele Gründe gibt, nicht aufs Zweirad zu steigen. Viermal im Jahr ist die Geräuschkulisse aber eine ganz andere: Dann klingen die Veloglocken durch die Stadt: Es ist Velo-Parade.
Die grosse Ringstrasse im Zentrum wird dann komplett für den Verkehr gesperrt. Statt Blechlawinen sind zehntausende Velofahrer und Velofahrerinnen unterwegs: Sportclubs auf schicken Rennrädern, Rentner mit ihren sowjetischen Klappvelos, Sonntagsfahrer und ganze Familien. Manche sind mit aufwändigen Kostümen gekommen: als Indianer verkleidet, als Comicfiguren oder mit Gasmaske.
«Es gibt in dieser Stadt Leute, die Velofahren möchten»
Die Veloparade ist weniger Sportanlass, als vielmehr Volksfest. Für einmal gehört die hektische russische Hauptstadt mit ihren prächtigen Boulevards und der imperialen Architektur den Menschen. Jenen, die gemütlich in die Pedale treten.
Der Kopf hinter der Idee ist Wladimir Kumov. Der 32-jährige ehemalige Journalist ist der Velo-Lobbyist in Russland. «Vor fünf Jahren habe ich die erste Veloparade organisiert», erzählt Kumov. Er habe mit 200 Teilnehmern gerechnet – 8000 seien gekommen. «Vor allem waren wichtige Beamte aus der Stadtverwaltung dabei und die haben gesehen: Es gibt in dieser Stadt Leute, die Velofahren möchten.» Das habe etwas ausgelöst.
Früher war Velofahren ein Hobby, allenfalls etwas für Kinder. Inzwischen ist das Velo zum Verkehrsmittel geworden.
Tatsächlich ändert sich seither das Stadtbild von Moskau. Im Zentrum wurden erste Velo-Wege gebaut, es gibt schon 150 Mietvelostationen und vor Geschäftshäusern stehen Veloparkplätze. Die wichtigste Veränderung geschah aber in den Köpfen der Moskauer, sagt Wladimir Kumow: «Früher war Velo-Fahren ein Hobby, allenfalls etwas für Kinder. Inzwischen ist das Velo zum Verkehrsmittel geworden.» Immer mehr Leute würden es benutzen um damit zur Arbeit oder zum Einkaufen zu fahren.
Kumows Eindruck bestätigen auch andere Teilnehmer der Veloparade. Lena etwa, eine gut 60-jährige Frau, die mit ihrem Mann angeradelt gekommen ist. «Früher sind wir nur auf der Datscha, unserem Sommerhäuschen ausserhalb der Stadt, Velo gefahren», sagt sie. «Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Wir brauchen das Velo inzwischen auch im Alltag.»
Die Entwicklung hat viel mit Bürgermeister Sergej Sobjanin zu tun. Er hat das Amt im Jahr 2010 übernommen und sich mit viel Elan daran gemacht, das Gesicht der Stadt zu verändern. Er liess Fussgängerzonen einrichten, sanierte Parkanlagen, baute den öffentlichen Verkehr aus. Parkplätze in der Stadt wurden gebührenpflichtig – alles Massnahmen, um die chronischen Staus zu bekämpfen.
Westeuropa als Vorbild
Doch eine Stadt wie Moskau mit ihren 12 Millionen Einwohnern lässt sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Gerade die Velo-Infrastruktur ist immer noch ein Flickenteppich. Velo-Aktivist Kumow sagt, er sei noch nicht zufrieden mit dem, was er erreicht habe. Kumow: «Wir haben erst 200 Kilometer Velowege und sind noch weit von einem zusammenhängenden Netz entfernt. Für eine Metropole wie Moskau ist das viel zu wenig.» Das Problem sei, dass es in der Stadtverwaltung immer noch viele Leute gebe, die nicht an die Vision einer Velo-Stadt glauben.
Wir haben im Januar eine Winter-Veloparade organisiert. Es war minus 28 Grad – trotzdem sind 500 Leute gekommen.
Wladimir Kumow ist viel herumgekommen in der Welt. In Paris, Berlin oder London ist er Velo gefahren. Er hat sich mit Städtebauern und Politikern aus insgesamt 35 Ländern getroffen. Es gehe darum zu lernen, welche Erfahrungen andere beim Ausbau der Veloinfrastruktur gemacht haben, sagt er. Kumow steht für ein weltoffenes, lernbegieriges Russland, das es auch gibt.
Velo-Bewegung als Zeichen für widersprüchliche Entwicklung
Doch der Widerstand in Moskau bleibt beträchtlich. Immer wieder muss sich der Aktivist anhören, in Russland sei eben das falsche Klima fürs Fahrrad. «Klar, wir haben einen langen Winter. Es ist selbst Ende Mai noch ziemlich kalt», sagt er. Trotzdem glaube er, dass man auch in Moskau rund ums Jahr Velofahren könne. Und er sei nicht der einzige, der das so sehe. «Wir haben im Januar eine Winter-Veloparade organisiert. Es war minus 28 Grad – trotzdem sind 500 Leute gekommen.»
Die erstarkende Velo-Bewegung ist Teil einer grösseren, sehr widersprüchlichen Entwicklung in Russland. Viele Menschen – vor allem in den Grossstädten – orientieren ihren Lebensstil immer mehr an europäischen Vorbildern. Und das, obwohl der Kreml das Land politisch auf Konfrontationskurs geführt hat mit dem Westen.