Es ist ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte: Vor allem dann, wenn Menschen sich selber oder andere gefährden, können sie auch gegen ihren Willen in psychiatrische Behandlung kommen. Dazu dient die sogenannte «fürsorgerische Unterbringung», wie es im Fachjargon heisst.
Beispiel: Ein Mann mit paranoider Schizophrenie fühlt sich von seinem Nachbarn bedroht und greift diesen an. Die Polizei schreitet ein. Sie nimmt den psychisch kranken Mann mit auf den Posten, dort muss dann ein Arzt über eine «Zwangseinweisung» entscheiden.
In der Nacht und am Wochenende wird dafür im Kanton Aargau die Firma Mobile Ärzte AG gerufen. Sie hat ihren Sitz im Baselbiet und eine Niederlassung in Birr. Der Arzt muss innerhalb von maximal einer Stunde darüber entscheiden, ob es zu einer «fürsorgerischen Unterbringung» kommt oder nicht.
Früher waren dafür die Amtsärzte zuständig – einheimische Hausärzte mit Zusatzauftrag quasi. Allerdings fanden sich immer weniger Ärzte, die zu Notfalleinsätzen in der Nacht und am Wochenende bereit waren – deshalb setzt das zuständige Departement für Gesundheit und Soziales also auf die Dienstleistung der privaten Doktoren.
Allerdings: Im April berichtet die «Aargauer Zeitung» über einen massiven Anstieg der Zwangseinweisungen. 30 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr, so die Bilanz nach drei Monaten. Die Vermutung liegt nahe: Die neuen, privaten Ärzte weisen schneller ein als es die früheren Amtsärzte getan haben. Das bestätigt auch der zuständige Kantonsarzt – verspricht aber Besserung und eine Weiterbildung für die «mobilen Ärzte».
Diese Besserung ist nun offensichtlich eingetreten – obwohl die Weiterbildung erst in Planung ist, wie der Kantonsarzt auf Anfrage sagt. In den Monaten April bis Juni hat die Zahl der fürsorgerischen Unterbringungen im Vergleich zum Vorjahr sogar ganz leicht abgenommen (siehe Grafik).
Das neue System hat sich eingependelt. Das bestätigt auch Wolfram Kawohl, Chefarzt Psychiatrie und Psychotherapie der psychiatrischen Dienste (PDAG). Seine Klinik in Königsfelden nimmt die meisten zwangsweise eingelieferten Patienten auf – und untersucht diese dann selber noch einmal.
Die allermeisten fürsorgerischen Unterbringungen sind klinisch nachvollziehbar.
«Wir sind bei den Zahlen auf Vorjahresniveau und die allermeisten fürsorgerischen Unterbringungen, die uns zugewiesen werden, sind aus unserer Sicht auch klinisch nachvollziehbar.» Kawohl betont zudem, dass die einweisenden Ärzte keine einfache Aufgabe haben. «Es gibt immer einen Moment der Unsicherheit, eine Gefährdung ist nicht so einfach messbar wie die Körpergrösse.»
Für den Chef-Psychiater in Königsfelden steht der Aargau auch im interkantonalen Vergleich gut da. «Es gibt Kantone, wo es mehr fürsorgerische Unterbringungen gibt», so Kawohl. Der grosse Trend allerdings bereitet Wolfram Kawohl Sorgen: Insgesamt nimmt die Zahl der Zwangseinweisungen im ganzen Land nämlich zu, zeigt ein nationaler Bericht.
Die Gründe dafür sind nicht ganz klar. Die Bevölkerung wünscht sich Sicherheit, Ärzte könnten sich auch vor rechtlichen Konsequenzen fürchten, wenn sie zum Beispiel einen Patienten nicht einweisen und dieser dann gewalttätig wird. Für Wolfram Kawohl eine gefährliche Entwicklung: «Man muss wirklich genau hinschauen und eine fürsorgerische Unterbringung muss immer das letzte Mittel sein.»
Das muss immer das letzte Mittel sein.
Auch die Chance auf eine erfolgreiche Therapie sei grösser, wenn sich Patienten freiwillig melden, so Kawohl. Er wünscht sich eine gesellschaftliche Trendwende. «Wir sollten psychische Erkrankungen als Krankheiten akzeptieren, den Leuten die Angst nehmen, sich in einer psychiatrischen Klinik behandeln zu lassen.»
Je kleiner die Hürde für psychiatrische Behandlungen, desto kleiner die Zahl der fürsorgerischen Unterbringungen – das ist die Gleichung von Wolfram Kawohl. Dabei weiss der Chefarzt in Königsfelden aber natürlich genau, dass eine solche Entwicklung nicht von heute auf morgen passieren kann.