Der Jura-Konflikt erregt seit Jahrzehnten die Gemüter. Jetzt sorgt eine unrühmliche Episode für weiteren Aufruhr: Die Abstimmung über den Wechsel Moutiers vom Kanton Bern zum Kanton Jura ist für ungültig erklärt worden. Der Politologe Sean Müller von der Universität Bern ist Föderalismusexperte. Für ihn ist klar: Eine neuerliche Abstimmung dürfte unvermeidlich sein – auch wenn die Unzufriedenheit im Lager der Separatisten gross sein wird.
SRF News: Wie oft kommt es vor, dass eine solche Abstimmung für ungültig erklärt wird?
Sean Müller: Sehr, sehr selten. Meistens werden Abstimmungen auch nur für ungültig erklärt, wenn sie knapp ausgegangen sind und es schwere Rechtsverstösse gegeben hat – was nun offenbar der Fall ist.
Die zuständige Statthalterin spricht von «unzulässiger Propaganda». In Medienberichten war auch von Abstimmungstourismus und Stimmenkauf die Rede. Handelt es sich um einen besonders krassen Fall?
Es gibt mehrere Vorfälle, die einen Schatten auf diese Abstimmung werfen. Es geht nicht um Propaganda, Abstimmungstourimus oder fehlerhafte Wählerlisten: Es hat von allem ein bisschen. Nimmt man das alles zusammen, kommt ein ungutes Gefühl auf. Verbunden mit der Frage: Ist alles korrekt abgelaufen?
Es ist nicht so, dass man den Stimmbürgerinnen und -bürgern das Stimmrecht entziehen würde.
Die Abstimmung hätte schliesslich auch anders ausgehen können. Dann wären die Separatisten, die verloren hätten, ebenso froh, wenn die Vorgänge genau abgeklärt würden und damit das Vertrauen in den Abstimmungsprozess wiederhergestellt würde.
Es ist allerdings ein starker Eingriff, wenn man eine Abstimmung für ungültig erklärt.
Es wurde lediglich festgehalten, dass die Abstimmung, wie sie stattgefunden hat, nicht gültig ist. Im allerschlimmsten Fall bedeutet das, dass erneut abgestimmt wird. Es ist nicht so, dass man den Stimmbürgerinnen und -bürgern das Stimmrecht entziehen würde. Sie müssen nur erneut an die Urne, quasi die Klasse wiederholen.
Hätte die Statthalterin Alternativen zur Ungültigkeitserklärung gehabt?
Entweder fand ein gravierender Eingriff statt. Dann ist die Konsequenz, dass die Abstimmung annulliert wird. Falls dem nicht so gewesen wäre, hätte die Statthalterin sagen können: Es kam zwar zu Unregelmässigkeiten, diese hätten den Ausgang der Abstimmung aber nicht verändern können: Deswegen wird die Abstimmung nicht wiederholt. Mit 137 Stimmen Unterschied war das Resultat aber sehr knapp. Es braucht also nur 60-70 Leute, die anders gestimmt hätten, und es wäre gekippt. Deswegen macht es Sinn, in Ruhe zu diskutieren, wie man es besser machen kann.
Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig. Vermutlich wird das Bundesgericht in Lausanne noch darüber befinden. Wie wichtig ist es, dass ein Gericht das letzte Wort hat?
Wichtig ist, dass verschiedene Instanzen sich dazu äussern können. Jetzt hat eine Statthalterin interveniert, die immerhin in der Region direkt gewählt wurde. Gerade für Kreise, die immer gegen «fremde Richter» oder Richter im Allgemeinen wettern, ist es ein gutes Zeichen, dass eine Person aus der Region die Entscheidung getroffen hat. Das letzte Wort werden aber professionellere und unabhängigere Richter haben.
Kommt es zu einer neuen Abstimmung, falls die Ungültigkeit bleibt?
Es ist nicht ganz klar, was passieren wird. Der politische Prozess, der zur Abstimmung geführt hat, wurde nicht beanstandet. Konkret die Absichtserklärung von Moutier sowie die vorangegangene Abstimmung auf regionaler Ebene.
Man kann nicht ausschliessen, dass Leute, die über den Entscheid frustriert sind, ihren Unmut nun gegen die Institutionen richten.
Es ist auch klar, dass ein grosser Teil der Bevölkerung von Moutier einen Kantonswechsel will. Niemand behauptet, dass alle 51-52 Prozent der Ja-Stimmen gefälscht waren oder irregeleitete Wähler die Strassen von Moutier bevölkern. Um eine zweite Abstimmung kommt man aber kaum herum.
Das Thema ist bei den Menschen in der Region sehr emotional. Das dürfte auch bei einer zweiten Abstimmung so sein. Die Situation ist also sehr heikel.
Einerseits ist sie sehr heikel. Andererseits besteht die Situation ja nicht erst seit kurzem, sondern seit dem 2. Weltkrieg. Damals kam die berühmte Jura-Frage aufs politische Tapet, langjährige Diskussionen starteten und es wurde abgestimmt. Ich habe volles Vertrauen in die Akteure auf allen Seiten, dass sie einen Modus vivendi finden, der sowohl demokratisch als auch rechtsstaatlich genügend ist.
Dass man eine Lösung findet, ist also auch wichtig für das Vertrauen der Menschen in Demokratie und Rechtsstaat?
Föderalismus und Demokratie gehen Hand in Hand. Föderalismus bedeutet Demokratie auf unterer, mittlerer und oberer Ebene. Auch jetzt sind alle drei Ebenen mit ihren verschiedenen Organen involviert. Das sollte eigentlich dazu führen, dass das Vertrauen gestärkt wird. Man kann nicht ausschliessen, dass Leute, die über den Entscheid frustriert sind, ihren Unmut nun gegen die Institutionen richten. Es gehört aber gewissermassen zu einer Demokratie, dass man die Erlaubnis hat, unzufrieden zu sein. Es gibt aber demokratische Mittel und Wege, dieser Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.