Angststörungen, Essstörungen, Depressionen, suizidale Gedanken oder ein vollzogener Suizidversuch: Die Gründe, warum Jugendliche in die Notfallstation der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeliefert werden, sind vielfältig.
Suizidale Gedanken werden oft in Chats geteilt.
Ein Grund sticht jedoch heraus: «In 90 Prozent der Fälle geht es um eine Selbstgefährdung», erklärt Dagmar Pauli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Die Zahl der Notfälle nahm in Zürich in den letzten zehn Jahren massiv zu. Waren es 2007 noch 46 Fälle, sind es 2017 knapp 650. Das zeigen Zahlen, die SRF Data vorliegen.
«Die Zahlen sind alarmierend und sie zeigen, dass heute Jugendliche in einer schweren Lebenskrise stärker suizidal sind als noch vor einigen Jahren», sagt Dagmar Pauli. Der Umgang mit schweren Lebenskrisen habe sich offenbar verändert. «Früher experimentierten Jugendliche in einer schweren Lebenskrise mit Drogen oder Alkohol, heute machen sie sich Gedanken, sich selbst etwas anzutun.»
Laut der Psychiaterin hat das auch mit den sozialen Medien zu tun. «Ich stelle fest, dass solche suizidale Gedanken oft in Chats geteilt werden und dadurch der Umgang mit solchen Lebenskrisen entsprechend geprägt wird.»
Mädchen reagieren anders auf schulischen Druck
Auch die Anzahl stationärer Fälle hat 2017 einen neuen Höchststand erreicht. Insbesondere der Anteil Mädchen in der Jugendpsychiatrie stieg in den letzten Jahren stark. 2017 waren es 63 Prozent. Gemäss Dagmar Pauli tendieren die Mädchen im Gegensatz zu den Knaben mehr dazu, ihre Lebenskrisen zum Ausdruck zu bringen.
Auslöser können Beziehungsprobleme in der Familie oder Enttäuschungen im Liebesleben sein. In vielen Fällen geht es jedoch um schulische Überforderung: «Wir stellen fest, dass suizidale Fälle von Mädchen auf die Jahresabschlusszeugnisse hin zunehmen», erklärt Dagmar Pauli.
Für sie ist klar: Mädchen wollen alle Anforderungen erfüllen. Wenn sie merken, dass sie das nicht können, geraten sie in eine Krisensituation.
Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Bern nimmt die Anzahl Jugendlicher in schweren Lebenskrisen seit 2012 zu – sowohl im Kriseninterventionszentrum wie auch in der stationären Abteilung: Waren es 2012 noch insgesamt 314 Fälle, sind es 2015 bereits 430 Fälle. «Den grössten Anteil machen Fälle von suizidgefährdeten Jugendlichen aus», erklärt Kaspar Stuker, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern.
Die Bereitschaft, Angebote in Anspruch zu nehmen, ist heute höher als noch vor einigen Jahren.
Das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau verzeichnet ebenfalls einen starken Anstieg der ambulanten Fälle: 2012 waren es 947 Fälle, 2017 bereits 1575.
Raphael Eisenring, stellvertretender Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste Aargau, sieht einen der Gründe in der Entstigmatisierung und der vermehrten Sensibilisierung für psychiatrische Störungen: «Die Bereitschaft, die Angebote der Klinik in Anspruch zu nehmen, ist heute höher als noch vor einigen Jahren.» Ein weiterer Grund: Die Versorgungsstrategie des Kantons lautet «ambulant vor stationär». Dies führt zu einer Zunahme ambulanter Fälle und zu einer Abnahme stationärer Behandlungen im Kanton.
Mehr Jungen nehmen sich das Leben
Suizid ist in der Schweiz die häufigste Todesursache der 15- bis 19-Jährigen. 2015 nahmen sich 35 Jugendliche in diesem Alter das Leben. Das zeigen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Die Suizidrate insgesamt nahm jedoch in den letzten Jahren nicht zu. Zwar gibt es Schwankungen, im Durchschnitt bleiben die Zahlen stabil.
«Zum Glück ist das so», sagt Dagmar Pauli. «Heute bieten wir bereits zu einem frühen Zeitpunkt Hilfe an, die Anzahl Klinikplätze wurde erhöht und das Umfeld der Jugendlichen ist sensibilisierter für solche Krisensituationen als noch vor ein paar Jahren.»
Der Anteil Knaben, die sich das Leben nehmen, ist mit rund 75 Prozent um ein Vielfaches höher als derjenige der Mädchen. Demgegenüber ist der Anteil Mädchen in psychiatrischer Behandlung höher. Pauli kennt die Gründe: «Mädchen tendieren mehr dazu, ihre Lebenskrise zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise durch einen Suizidversuch oder Selbstverletzung. Knaben versuchen, das mit sich selbst auszumachen – bis das Fass überläuft.»
Jugendliche, die suizidal sind, wollten in den allermeisten Fällen nicht sterben. «Es ist eher so, dass sie denken, so kann ich nicht mehr weiterleben. Sie fühlen sich in einer Sackgasse, wollen eigentlich aber weiterleben», erklärt Dagmar Pauli. Dies sei auch der Grund, warum den Jugendlichen in einer solchen Lebenskrise in den meisten Fällen auch geholfen werden könne.