Renato Lenherr weiss, warum viele Angehörige eine Organspende ablehnen. Er ist Intensivmediziner am Universitätsspital Zürich und der Mann, der todtraurigen Angehörigen die Frage stellen muss: Dürfen wir diese Organe spenden?
Egal wie sorgfältig er die Frage formuliert, sie ist immer brutal. «Es ist ein Überfall. Oft kommt dann aus dem Bauch heraus ein Nein und das ist fix», beschreibt Renato Lenherr die Reaktion vieler Angehöriger. «Sie haben Angst, etwas falsch zu machen.»
Im aktuellen System gilt: Nur wer zu Lebzeiten explizit Ja sagt zu einer Organspende, kommt als Spender in Frage. Ist der Wille nicht bekannt, braucht es die Zustimmung der Angehörigen. Doch 60 Prozent sagen Nein.
«Oft sind mehrere Personen anwesend. Wenn dann nur eine Person dagegen ist, dann gibt es ein Nein.» Dabei handle es sich oft nicht um eine Ablehnung der Organspende, sondern die betroffene Person hadere mit der Situation insgesamt. «In dieser Extremsituation fällt es schwer, zu diskutieren oder abzuwägen. Alles wird abgeblockt. Es ist ein Nein zu allem», so Lenherr, der täglich mit solchen Szenen konfrontiert ist.
In 50 Prozent der Fälle ist der Wille des Verstorbenen nicht bekannt. «Das sind extrem schwierige Gespräche. Ich frage die Angehörigen: ‘Wäre die Person hier und würde uns von oben zuschauen: Wie würde sie entscheiden?’» Oberstes Ziel sei nicht, möglichst viele Organspenden zu erhalten, sondern den Patientenwillen zu erfüllen.
Überzeugungsarbeit leistet Lenherr keine. Er zeige Vor- und Nachteile einer Spende auf, mehr nicht. Dies, obwohl auf der Intensivstation nicht nur potenzielle Organspender liegen, sondern auch Patienten, die auf ein Organ warten. Die Abläufe seien klar getrennt. «Ich sehe nicht überall potenzielle Spender. Ich sehe Patienten.»
Die Leute füllen den Spendeausweis nicht aus. Das System funktioniert einfach nicht.
1400 Menschen warten in der Schweiz auf ein Organ. Durchschnittlich müssen sie ein Jahr lang warten. Nicht alle haben so viel Zeit. «Lange dachte ich, dass das aktuelle System gut ist. Aber inzwischen musste ich erkennen, dass die Leute den Spendeausweis nicht ausfüllen. Es funktioniert einfach nicht.»
Deshalb plädiert Renato Lenherr inzwischen für eine erweiterte Widerspruchslösung. Das bedeutet, dass allen verstorbenen Personen die Organe entnommen werden dürfen, wenn sie sich zu Lebzeiten nicht explizit dagegen wehren.
Das letzte Wort haben jedoch noch immer die Angehörigen. Würde die Spende als Normalfall angenommen, würde häufiger der effektive Wille des Verstorbenen umgesetzt, ist Lenherr überzeugt. «Die Bereitschaft zur Spende ist eigentlich hoch.» Zudem ist er überzeugt, dass ein Systemwechsel weniger Stress für die Angehörigen bedeuten würde. «Es würde dieses extrem schwierige Gespräch ein bisschen einfacher machen, wenn ich sagen könnte, dass im Normalfall gespendet wird.»
Angenommene Zustimmung
Doch darf man einfach von Nächstenliebe ausgehen? Die Nationale Ethikkommission sieht die Widerspruchslösung kritisch. Sie argumentiert, dass das Modell die Persönlichkeitsrechte verletzen kann und unter Umständen gegen die körperliche Integrität verstösst. Auch ein toter Körper habe Rechte. Und die Einwilligung in die Organspende sollte nicht nur vermutet werden, sondern müsse tatsächlich vorliegen.
Die Widerspruchslösung ist inzwischen in vielen europäischen Ländern die Regel. In der Schweiz steht sie ebenfalls zur Debatte. Im Frühling wurde eine Volksinitiative eingereicht, die dieses Modell fordert. Der Bundesrat, der die Widerspruchslösung 2013 noch abgelehnt hatte, ist nun ebenfalls umgeschwenkt. In einem indirekten Gegenvorschlag schlägt er eine erweiterte Widerspruchslösung vor. Im Gegensatz zur Initiative will er also die Angehörigen stärker miteinbeziehen.
Der Bundesrat verweist auf andere Länder, die dank der Widerspruchslösung ihre Organspenderate erhöht hätten. Noch 2013 verwies er jedoch ebenfalls auf das Ausland. Man sehe dort, dass die Widerspruchslösung keine Wirkung habe. Was gilt nun?
Erstens braucht es eine gewisse Zeit, bis die Spende auch im Kopf der Angehörigen zum Normalfall wird. Zweitens ist das Modell alleine nicht entscheidend. Das zeigt das Beispiel Zürich: In Zürich galt bis zur Einführung des Transplantationsgesetzes 2007 die Widerspruchslösung, und seit es diese nicht mehr gibt hat sich die Spenderate nicht verschlechtert.