«Das Umarmen, ich brauch das einfach!» Irene Baratti steht an einem Bar-Tischchen in Solothurn und schaut mit qualvollem Blick zu Ihren Kollegen. «Als ich Freunde weder umarmen noch küssen durfte und ich das dann in der Realität erlebte, fühlte sich das an wie eine Zurückweisung», sagt Baratti. «Und ich habe immer noch den Reflex, dass ich die Hand geben will», fügt ihre Kollegin Manuela Zimmerlé an.
Berühren verboten, Hände schütteln verboten, umarmen verboten. Das Coronavirus hat unser Sozialverhalten drastisch eingeschränkt. Und nicht nur bei den zwei Frauen drängt sich die Frage auf, ob wir nach der Coronakrise wieder zurückkehren zu dem, was mal war.
Die Chancen
Epidemiologe Marcel Salathé wird das Küssen nicht so vermissen. Er lebte lange in den USA, wo Berührungen beim Begrüssen die Ausnahme sind. Und er ist froh, dass die Menschen das Abstandhalten verinnerlicht haben. «Es sind zwar nicht immer zwei Meter, aber wir haben gemerkt, dass es eine Zone gibt, in die wir nicht unbedingt hinein gehen müssen.»
Auch Autor und Benimm-Experte Christoph Stokar sieht Veränderungen im Sozialverhalten, die nicht so schlecht seien. «Dass man in Gruppen beim auswärts Essen mit jedem anstösst und dazu noch aufsteht, dürfte vorbei sein. Oder dass man jedem am Tisch die Hand schüttelt.» Und noch etwas hofft er: «Vielleicht hört nun gar das ‹Rudel-Küssen› mit mehr als sechs oder sieben Personen auf.»
Zuviel Distanz kann schaden
Das neue Sozialverhalten wegen der Coronakrise bringt aber auch Risiken mit sich. Gerade wenn man sich nicht mehr viel berührt, erklärt Epidemiologe Salathé. «Das Immunsystem ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss. Das nennt sich die Hygiene-Hypothese.» Deshalb sei es wichtig, dass sich der Mensch Viren und Bakterien aussetzt.
Angst, dass die Begrüssungsrituale ändern, ist unnötig. Das bestätigen vier Psychologie-Professoren von verschiedenen Universitäten auf Anfrage von SRF. Aber es könne durchaus Leute geben, die auch nach der Coronakrise lieber nicht mehr so viele Hände schütteln.
«Das kann zu sozialer Isolation führen», erklärt Urte Scholz, Professorin für angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie in Zürich. «Wenn ich die Hand hinhalte und die Person gegenüber nimmt das nicht an, dann fühle ich mich abgelehnt.» Gerade wer viel aufs Händeschütteln gibt, dessen Psyche kann dadurch beeinträchtigt werden.
Kein psychischer oder medizinischer Schaden, dafür aber einen Verzichten kann es bei der Menü-Wahl geben. Benimm-Experte Stokar vermutet, dass Fondues, Tavolatas oder Tapas künftig beim Essen mit Freunden weniger auf dem Tischen landen.
Besseres Bewusstsein
Das Coronavirus hat aber auch Potenzial für positive Entwicklungen beim Menschen und seinem Verhalten. Epidemiologe Salathé geht davon aus, dass der Respekt vor Krankheiten nun gestiegen ist und dass dies auch zu einer höheren Impfbereitschaft führen wird.
Und vielleicht werden die Coronakrise und die Einschränkungen sogar zu einem neuen Begrüssungsritual führen. «Ich persönlich fände das ganz schön», erklärt Psychologie-Professorin Scholz. «Es ist eine globale Krise. Warum nicht auch ein globales Begrüssungsritual? Damit man sich erinnert, was man zusammen durch gemacht hat.»
Ob das Irene Baratti gefallen würde? Sie freut sich auf jeden Fall schon auf den Moment, wenn «richtige» Begrüssungen wieder möglich sind. «Was ich dann tue? Huuuiii! Ich glaube, ich werde ganz lange Händeschütteln und erst recht ganz fest umarmen!»