Zwei Worte, ein kurzer Tweet: Der Beginn einer kleinen Polit-Revolution in der Schweiz. Am 16. März ärgert sich die Schriftstellerin Sibylle Berg auf Twitter über das so genannte Sozialdetektiv-Gesetz. Dieses erlaubt, IV-Bezüger, Arbeitslose und Krankenversicherte bei Verdacht auf Missbrauch durch Detektive observieren zu lassen. Das Parlament hatte das Gesetz kurz zuvor verabschiedet, in hohem Tempo.
Referendum aus dem Internet
In noch höherem Tempo findet Berg über Twitter Mitstreiter. Zu viert lancieren sie einen Aufruf im Internet: Wer hilft uns, Unterschriften zu sammeln? Innert Tagen melden sich über 10'000 Personen. Dann kommen auch die Parteien, die Organisationen. 62 Tage später steht das Referendum.
Schnell, vielleicht zu schnell – sagt Polit-Geograph Michael Hermann von der Universität Zürich.
Bei den Referenden – mehr noch als bei den Initiativen – war Zeit immer ein knappes Gut. Das hat dazu geführt, dass eigentlich nur bedeutende Institutionen referendumsfähig sind. Und jetzt können es auch spontane Gruppierungen. Das ist eine Verschiebung der Macht weg von etablierten Kräften hin zu Bürgerbewegungen.
Für Hermann könnte dies Reformen künftig erschweren: «Die, die das Referendum ergreifen, sitzen nicht am Tisch, wenn das Gesetz ausgehandelt wird.» Das Parlament kann die Referendumsdrohung daher nicht bereits einbinden und so in einem Kompromiss neutralisieren. Seine Bedenken äusserte Hermann gestern gegenüber SRF.
Auf srf.ch sorgt dies für eine Kontroverse. Die meisten sehen es anders als der Politologe:
Nein, wenn Parteien einen guten Kompromiss machen, gibt es keine Referenden. Wenn aber gewisse Parteien mit Kanonen auf Spatzen schiessen und Sozialhilfeempfänger totaler Willkür aussetzen, wenn sie diese Menschen stärker überwachen und schikanieren wollen (...) dann wird es Referenden hageln!
Doch selbst Personen, die die Überwachung von Versicherten befürworten, loben den Effort des Mini-Komitees:
Ich gratuliere dem Komitee zu seinem Erfolg und finde es schön, dass auch Einzelpersonen so ein Referendum zu Stande bringen. Das ist für mich Demokratie. Dennoch habe ich als Person absolut nichts gegen dieses Gesetz (...). Wenn ich Leistungen beziehe und ein gutes Gewissen habe, brauche ich keine Angst davor zu haben, überwacht zu werden.
Sind 50'000 genug?
Das Referendum gehört zu den politischen Rechten, die in der Schweiz den Kern der direkten Demokratie bilden. Seit 1874 können Stimmberechtigte ein Referendum verlangen – bei allen Bundesgesetzen und bestimmten Bundesbeschlüssen. Dafür mussten damals innert drei Monaten 30'000 Personen unterschreiben. 1978, nach der Einführung des Frauenstimmrechts, wurde die Anzahl auf 50'000 angehoben. Allerdings ist die Bevölkerung seither gewachsen. Der Anteil der Stimmberechtigten, die unterschreiben müssen, schrumpft.
Ist die Hürde also mittlerweile zu klein? Nein, sagt Polit-Geograph Hermann. Es sei durch die Individualisierung nämlich schwieriger geworden, die Menschen zu erreichen.
Und: «Früher konnte man an die Urne stehen und die Leute abfangen, die politisch interessiert sind. Heute stimmen viele brieflich ab.» Daher hält Hermann eine Anhebung der Schwelle für nicht ratsam: «Ich wäre vorsichtig mit einer Veränderung.»