Die Luzerner Psychiatrie bietet seit 2007 das sogenannte Home Treatment an, die «Klinik zuhause». Chefärztin Kerstin Gabriel Felleiter erzählt von den Erfahrungen, die man seither mit diesem innovativen Konzept gemacht hat.
SRF: Die Luzerner Psychiatrie ist hierzulande eine Pionierin des klassischen Home Treatments. Hat sich das Engagement gelohnt?
Kerstin Gabriel Felleiter: Unsere Erfahrungen sind sehr gut. Das Angebot kommt bei Patienten, Zuweisern und vor allem auch bei den Angehörigen sehr gut an.
Wir bieten Home Treatment mit zwei Teams flächendeckend für die gesamte Bevölkerung des Kantons Luzern an. Beide Teams sind ausgelastet.
Was ist der grösste Unterschied zwischen der stationären Behandlung und der Klinik zuhause?
Wir als Behandelnde sind zu Gast beim Patienten. In der Klinik haben wir die «Schlüsselgewalt», geben den Rahmen vor. Im Home Treatment gehen wir zum Patienten nach Hause.
Wir müssen uns ein Stück an den Patienten anpassen und seine Regeln akzeptieren – ein kompletter Rollenwechsel.
Er hat den Schlüssel und kann uns rausschmeissen oder gar nicht erst reinlassen. Wir müssen uns ein Stück an den Patienten anpassen und seine Regeln akzeptieren – ein kompletter Rollenwechsel.
Welche Auswirkung hat das auf den Patienten?
Möglicherweise kommt es deshalb im Home Treatment zu weniger Konflikten oder Aggressionen. Der Patient hat die Freiheit, mehr selbst zu bestimmen, beispielsweise seinen Tagesablauf. Er behält mehr Kontrolle, aber auch mehr Verantwortung. Das finde ich einen Riesenvorteil.
Sie haben Home Treatment in der Luzerner Landschaft selber aufgebaut und waren in der ersten Zeit auch sehr viel selber zu Hause bei Patienten unterwegs – was ist Ihnen bei der Arbeit am meisten aufgefallen?
An ein Erlebnis erinnere ich mich sehr gut: Ich war zum ersten Mal bei einer Patientin zuhause, die ich schon länger ambulant betreut hatte. Das gab mir plötzlich einen ganz anderen Blick auf die Patientin. Mir wurde klar: Mein Bild von ihr stimmt ja gar nicht ganz.
Oder da gab es einen Patienten, der es zu Hause nicht ausgehalten hat und häufig in der Klinik ein- und ausgegangen ist. Im Home Treatment stellte sich dann heraus, dass er zuhause nicht einmal eine Matratze zum Schlafen hatte.
Wir haben im Home Treatment Wohnungen gesehen, da wären auch wir depressiv geworden.
Das alles heisst: Wir Behandelnden – stationär oder ambulant – bekommen einen wichtigen Teil unserer Patienten einfach nicht mit. In der Klinik, in der das Essen serviert und der Tagesablauf bestimmt ist, wird nur ein Teil sichtbar. Was wir nicht sehen: In welchem Umfeld ein Patient lebt, wie sich sein Zuhause überhaupt gestaltet.
Wir haben im Home Treatment Wohnungen gesehen, da wären auch wir depressiv geworden. Da versteht man plötzlich, warum jemand nicht aus der Klinik austreten will.
Stichwort Drehtüreffekt: Laut Studien wird der Drang, in den sicheren Hafen der Klinik zurückzukehren, durch die Therapie zuhause reduziert. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?
Ja. Wir haben immer wieder das Problem, dass Patienten in der Klinik etwas lernen, das sie dann im Alltag alleine nicht anwenden können. Das ist der Vorteil beim Home Treatment: Das Gelernte wird unmittelbar im Alltag zu Hause angewendet und geübt. Der Patient wird sicherer in seinem eigenen Umfeld und der Drehtüreffekt kann dadurch vermindert werden.
Für welche Patienten finden Sie Home Treatment besonders geeignet?
Grundsätzlich eignet es sich für alle Patienten mit einer akuten psychiatrischen Problematik. Sehr gut ist Home Treatment für Patienten, die zum Beispiel unter Wahnerkrankungen oder Psychosen leiden und Mühe haben mit der Nähe und der Gemeinschaft in der Klinik.
Ganz toll finde ich das Angebot für erkrankte Mütter mit Kindern. Einige von ihnen lassen sich bisher nicht behandeln, weil sie von ihren Kindern nicht getrennt werden wollen.
In dieser Situation kommt ein weiterer Vorteil des Home Treatments zum Tragen: Wenn man als Therapeut dort ist, sind oft die Kinder auch da. Wir sehen die Interaktion mit dem Kind, sehen, wie das Kind versorgt wird und können Unterstützung vor Ort organisieren.
Wer ist nicht geeignet für Home Treatment?
Aus meiner Sicht kommen nur Patienten mit hohem Aggressionspotenzial, mit Eigen- oder Fremdgefährdung nicht in Frage. Wenn jemand bei der Einweisung schon sehr aggressiv ist, dann bietet sich das Home Treatment zumindest zu Beginn nicht an. Ebenso wenig für Patienten mit Selbstmordgedanken.
Die Stigmatisierung durch einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik ist immer noch sehr hoch. Wie ist das bei der Behandlung zuhause?
Stigmatisierung ist in der Psychiatrie ein Riesenthema, vor allem auch in ländlichen Gebieten. Wir haben dort viele Patienten, die nie in eine Klinik gegangen wären. Aber wenn wir zu ihnen nach Hause fahren, diskret und unauffällig, dann willigen sie ein.
Stigmatisierung ist in der Psychiatrie ein Riesenthema, vor allem auch in ländlichen Gebieten.
Hat das Home Treatment auch Nachteile?
Meiner Meinung nach nicht viele. Es gibt Patienten, die mit den Hausbesuchen überfordert sind. Und für manche Angehörige kann der Klinikaufenthalt auch eine notwendige Entlastung sein. Einige Patienten in der Klinik profitieren auch von den Gesprächen untereinander.
Darüber hinaus wird es schon schwierig, weitere Beispiele zu finden.
Häufig hört man den Ruf nach mehr Schweizer Studien zur Effektivität des Home Treatments. Was sagen Ihre Erfahrungen zur Wirksamkeit der Klinik zuhause?
Unsere Erfahrungen seit gut zehn Jahren zeigen ganz klar eine gute Effektivität. Home Treatment ersetzt bei vielen Patienten den stationären Aufenthalt und ist mindestens so wirksam.
Home Treatment ersetzt bei vielen Patienten den stationären Aufenthalt und ist mindestens so wirksam.
Wir haben in der Schweiz sehr viele unterschiedliche mobile Angebote, nicht nur die stationsäquivalente Behandlung wie wir sie anbieten. Es gibt bereits viel aussagekräftige Erfahrung im Bereich mobiler psychiatrischer Dienste in der Schweiz.
Und wie präsentiert sich die Studienlage allgemein?
Die Studienlage ist grundsätzlich positiv. Home Treatment hat international bei schweren psychischen Erkrankungen den höchsten Empfehlungsgrad. Die meisten Studien kommen aus dem englischsprachigen Raum, es gibt kaum welche im deutschsprachigen Raum. Erste Ergebnisse einer Studie aus der Schweiz zeigen geringere Behandlungskosten ohne Einbussen bei der Qualität.
Das Gespräch führte Nicole Westenfelder