Die «NZZ am Sonntag» machte gestern bekannt, dass drei Iraker aus dem Mittelland seit Frühling in U-Haft sitzen. Sie werden verdächtigt, eine IS-Zelle gegründet zu haben. Die Bundesanwaltschaft bestätigt lediglich Ermittlungen in 20 Fällen wegen radikalem Dschihadismus. Die Radikalisierung von Dschihadisten in der Schweiz hat Lorenzo Vidino in einer Studie untersucht. Er arbeitet am Center for Security Studies an der ETH Zürich.
SRF: Lorenzo Vidino, sind die Ermittlungen in 20 Fällen die gefürchtete Spitze des Eisbergs?
Lorenzo Vidino: Es gibt auch in der Schweiz gewisse Personen, die mit dem IS in Verbindung stehen, sie unterstützen oder zumindest mit der Ideologie der Terrororganisation sympathisieren. Darüber wissen die Behörden Bescheid. Insgesamt sind es nicht sehr viele, vor allem im Vergleich mit anderen europäischen Ländern.
Also einige Gruppen, aber kein Eisberg darunter?
Ich glaube nicht, dass es um eine grosse Masse geht. Wir sollten das nicht überschätzen, nicht überdramatisieren. Die Behörden rechnen mit etwa 20 Leuten, die nach Syrien gingen. Vielleicht sind es auch etwas mehr, aber höchstens 40. Und trotzdem: Es braucht nur eine Handvoll Täter für einen Terror-Anschlag. Daher sollten wir die Gefahr auch nicht unterschätzen.
Ist nicht das Internet das wichtigste Medium, um Dschihadisten zu kontaktieren und zu mobilisieren?
Das Internet spielt eine grosse Rolle, darf aber nicht überbewertet werden. Personen radikalisieren sich sowohl online wie offline. In der Schweiz gibt es keine so grosse radikale Szene wie in Deutschland oder Frankreich und auch keine radikalen Moscheen.
Wie setzen sich diese Dschihadisten in der Schweiz zusammen?
Es gibt kein einheitliches Profil. Vor zehn Jahren waren es Erst-Generations-Migranten, meist mit einem arabischen Hintergrund. Heute sprechen wir eher von der zweiten Generation, meist mit Herkunft Albanien, Mazedonien, Kosovo, Bosnien. Personen, die hier geboren oder zumindest aufgewachsen sind. Sie wurden hier radikalisiert. Es gibt auch eine grosse Zahl von Konvertiten. Wir kennen einen Fall eines konvertierten Schweizers, der nach Syrien ging. Auch Frauen sind darunter, solche, die zumindest sympathisieren mit dieser Ideologie.
Was ist die Rolle des Islamischen Zentralrats der Schweiz?
Die Rolle des Zentralrats ist sehr umstritten. Meiner Einschätzung nach gibt es keine operationellen Verbindungen zwischen dem Zentralrat und Dschihadisten-Gruppen. Aber der Rat schafft ein ideologisch fruchtbares Umfeld. Darauf können noch extremere Gruppen aufbauen. Im Fall Syrien propagiert der Zentralrat eine Sicht, die den Konflikt als legitimen Dschihad ansieht. Der Zentralrat unterstützt also logistisch niemanden, der nach Syrien kämpfen gehen will, aber er kreiert ein Umfeld, das das fördert.
Warum ist die Schweiz ein relativ sicheres Land?
Da spielen verschiedene Faktoren. Dazu gehören der hohe Level der Integration, die soziale und wirtschaftliche Lage. Ebenso die gute Bildung und die Neutralitätspolitik. Kommt dazu, dass ein Grossteil der Schweizer Muslime aus dem Balkan und der Türkei stammt, wo der Islam sehr tolerant und apolitisch gelebt wird. Einzelne Personen aus diesen Regionen interpretieren aber den Islam eher arabisch, eher radikal. Sie werden zu Salafisten und eventuell zu Dschihadisten.
Wo sind diese radikalen Zellen in der Schweiz?
Diese Nester oder Zellen sind verteilt über die ganze Schweiz. Offensichtlich gibt es in grösseren Städten eine grössere Konzentration. Während meiner Forschung an der ETH haben wir kleine Zellen in Basel und Bern aber auch in Zürich und Winterthur gefunden. Tendenziell eher in der deutschen Schweiz, aber es gibt auch Gruppen in Lausanne und Genf. Oder auch in ganz kleinen Dörfern im Nirgendwo. Dank dem Internet sind sie gut vernetzt mit der bekannten Szene.
Woher haben Sie ihre Informationen für die 33-seitige Studie?
Aus öffentlich zugänglichen Quellen. Zum Beispiel Gerichtsakten aus früheren Terrorismus-Ermittlungen. Ich habe auch viele Interviews mit Regierungsvertretern geführt, ebenso mit Individuen aus der salafistischen Gemeinde. Ich habe sodann Personen beobachtet, die online ihre Sympathien für dschihadistische Ideen kundgetan haben. Natürlich konnte ich nicht in jedem Fall die Person identifizieren. Aber es gab einen interessanten Einblick in ein Phänomen, über das wir sehr wenig wissen in der Schweiz.