Winterthur ist eine Hochburg der Schweizer Salafisten. Mindestens fünf junge Radikalisierte sind von der Eulach-Stadt aus nach Syrien und in den Irak zum Islamischen Staat (IS) gereist. Einen mutmasslichen Dschihad-Reisenden wird die Bundesanwaltschaft demnächst vor Gericht bringen. Doch bei den Hintermännern der Radikalisierung tappte die Justiz bisher im Dunkeln.
Erstmals ein grosser Fisch im Netz?
Mit dem Konvertiten S. ist der Bundesanwaltschaft (BA) nun erstmals einer der mutmasslichen Drahtzieher ins Netz gegangen. Zu den Vorwürfen gegen ihn will sich die BA zwar nicht äussern, doch im Raum steht angeblich der Verdacht auf Unterstützung und Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation.
Ob sich das auch beweisen lässt, ist unklar. Es gilt die Unschuldsvermutung. S. befindet sich inzwischen im Regionalgefängnis Bern in Untersuchungshaft. Erst vor kurzem hat das zuständige Zwangsmassnahmengericht einer Haftverlängerung wegen Verdunkelungsgefahr zugestimmt.
Radikalisierte Jugendliche
Die «Rundschau» beobachtet S. seit mehr als einem Jahr. Recherchen zeigen: Der Winterthurer Konvertit war nicht bloss ein Besucher der An‘ Nur-Moschee, sondern war dort auch eine Respektsperson für Jugendliche im Radikalisierungsprozess.
S. hatte Zugang zu den innersten Räumen des Gebetshauses und stand in engem Kontakt vor allem mit den Imamen Amine I., Shefik S. und zum Teil auch Atia E. Nach dem Gebet plauderte S. vor der Moschee mit jugendlichen Muslimen und schaute mit ihnen Handy-Videos mit islamischen Gesängen des IS.
Anknüpfungspunkte mit denselben Jugendlichen gab es nicht nur in der Moschee, sondern auch in mehreren Fitnesszentren und einem Kampfsport-Trainingsraum in Winterthur. S. liess sich auch in Trainingshosen im muslimischen «MMA-Sunna-Gym» von Valdet Gashi blicken. («MMA-Gym» bedeutet Mixed Martial Arts [Kampfsport] Trainingsraum, «Sunna» ist der sunnitische «rechte Weg des Propheten»). Gashi verschwand später beim IS in Syrien ebenso wie mindestens zwei weitere Besucher seines MMA-Sunna-Gyms.
Der Emir von «Lies!»
Das dritte und vielleicht wichtigste Netzwerk, in dem S. die zentrale Rolle spielte, war die Koran-Verteilaktion «Lies!» des deutsch-palästinensischen Salafisten Abou Nagie. Mit ihm besuchte S. eine Koran-Druckerei in Barcelona, und unter seiner Anleitung gründete S. den Schweizer Ableger des «Lies!»-Projekts.
S. wurde dabei Emir («Befehlshaber») genannt. Er stand aber manchmal auch selbst an den «Lies!»-Info-Ständen, etwa an der Zürcher Bahnhofstrasse, wo er Korane gratis unter die Leute brachte. Aus dem Umfeld des «Lies!»-Projekts reisten mindestens zwei in Winterthur bekannte Dschihadisten nach Syrien, ausserdem einer aus Arbon am Bodensee.
Bundesanwaltschaft schweigt
Wegen den laufenden Ermittlungen zur Verhaftung von S. wollte die Bundesanwaltschaft gegenüber der «Rundschau» keine Stellung nehmen.