Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz gerügt, nachdem er auf die Beschwerde des Vereins «Klimaseniorinnen» eingetreten ist: Die Schweiz mache zu wenig für den Klimaschutz. Die Reaktionen, etwa in der Politik, liegen weit auseinander – die einen begrüssen das Urteil, die anderen halten den Richterspruch für lächerlich. Johannes Reich, Professor für öffentliches Recht und Umweltrecht an der Universität Zürich, schätzt das Urteil ein.
SRF News: Mitte-rechts kritisiert, der Gerichtshof dürfe sich nicht in die demokratisch legitimierte Klimapolitik der Schweiz einmischen. Was sagen Sie dazu?
Johannes Reich: Es ist unbestritten, dass die Schweiz ihre Ziele, zu denen sie sich verpflichtet hat, bis 2020 nicht erreicht hat. Hier steht die Politik tatsächlich in der Pflicht, und zwar nicht einfach aus menschenrechtlicher Sicht, sondern vor dem Hintergrund der Abkommen, die die Schweiz ratifiziert hat.
Das Gericht hat sich um einen Mittelweg bemüht.
Der Gerichtshof für Menschenrechte hat explizit davon abgesehen, konkrete Vorgaben zu machen, wie die Schweiz ihre Ziele zu erreichen hat. In dem Sinne wahrt es den politischen Handlungsspielraum. Diese differenzierte Lösung wird im politischen Kontext so oder ganz anders ausgelegt – entweder als Sieg für die Menschenrechte per se, für Klimagerechtigkeit, oder als Übergriff von Richtern in die Politik. Aus meiner Sicht trifft beides nicht zu. Das Gericht hat sich um einen Mittelweg bemüht.
Im Artikel 8 in der Menschenrechtskonvention heisst es: Jeder hat das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Das Gericht legt den Artikel so aus, dass Staaten ihre Bevölkerung vor den Auswirkungen des Klimawandels schützen müssen. Kann man diesen Artikel so weit auslegen?
Der Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention hatte auch nach der früheren Rechtsprechung eine umweltrechtliche Komponente, die allerdings auf regionale Phänomene beschränkt war. Beispielsweise eine Mülldeponie, die schädliche Emissionen für die lokale Bevölkerung verursacht. Oder eine Stahlfabrik, die dazu führt, dass die Krebsrate in der näheren Umgebung sehr viel höher ist.
Der Artikel 8 hatte auch früher eine umweltrechtliche Komponente, die allerdings auf regionale Phänomene beschränkt war.
Die neue Dimension ist, dass der Klimaschutz ein Phänomen mit globalem Ausmass ist, und dass die Ursache für den Klimawandel eben in der Kumulation von Emissionen über lange Zeit liegt. Diese Expansion über reine regionale Phänomene hinaus, die klar begrenzt sind, ist eine neuere Entwicklung.
Kann man Klimaschutz nun auf dem Rechtsweg einfordern?
Hier ist das Urteil nicht vollumfänglich klar. Eher unerwartet ist die Tatsache, dass die Beschwerde der einzelnen Frauen, die auch als Klägerinnen aufgetreten sind, nicht zur Entscheidung angenommen worden ist, während die Klagebefugnis des Vereins anerkannt worden ist. Man hätte eher die umgekehrte Konstellation erwartet.
Diesbezüglich ist noch offen, wie das dann in der schweizerischen Rechtsordnung umgesetzt wird. Wir haben eine Rechtsordnung, in der kollektiver Rechtsschutz – also dass sich Personengemeinschaften um Rechtsschutz bemühen – kaum verbreitet ist. Allenfalls wird es hier prozessual und verfahrensrechtlich zu gewissen Anpassungen kommen. Das ist aber noch nicht vollständig absehbar.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.