Seit der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative im Februar 2014 besteht eine erhebliche Rechtsunsicherheit in der Migrationspolitik der Schweiz mit der EU. Die Umsetzung des neuen Verfassungsartikels bereitet einiges Kopfzerbrechen. Der Bundesrat hab bereits eine einseitige Schutzklausel vorgeschlagen, die aber gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU verstösst.
Als Reaktion auf die Masseneinwanderungs-Initiative wurde im Oktober 2015 die Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa) eingereicht. Diese ist sehr umstritten. Selbst bei den europafreundlichen Parteien gibt es grosse Vorbehalte gegen die Idee, die Masseneinwanderungs-Initiative rückgängig zu machen und den Verfassungsartikel wieder zu streichen.
Neuer Kompromissvorschlag
Nun hat der Think Tank «Forum Aussenpolitik» (foraus) einen Lösungsvorschlag als direkten Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative entwickelt, den sie «Konkordanzartikel» nennen. Vertreter von fünf Bundeshausfraktionen standen in Bern vor den Medien Pate bei der Präsentation des Vorschlags:
Das Forum Aussenpolitik schlägt vor, die verschiedenen mit der Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) verbundenen Anliegen in einem Verfassungsartikel zu vereinen. Dabei soll die Schweiz die Zuwanderung eigenständig steuern wie es Volk und Stände im Februar 2014 beschlossen haben. Die Zuwanderung soll aber nicht mit Kontingenten, Höchstzahlen oder Inländervorrang gesteuert werden, wie es die MEI festschreibt, denn dies steht im direkten Widerspruch zum Freizügigkeitsabkommen mit der EU. Vielmehr soll die Zuwanderung nach dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage gesteuert werden.
Das wird sichergestellt, indem die Personenfreizügigkeit an klare Voraussetzungen gebunden wird, die so in die Verfassung geschrieben werden sollen. Dazu gehören eine Arbeitsbewilligung, eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage oder Vorgaben aus dem Asyl- und Ausländerrecht. Ebenfalls erwähnt werden die flankierenden Massnahmen zum Schutz der geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz, die Förderung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und die Beschränkung des Anspruchs auf Sozialleistungen bei Zugewanderten.
Zuwanderungsartikel der MEI muss bestehen bleiben
Laut den foraus-Autoren hat bei einer neuen Volksabstimmung nur Aussicht auf Erfolg, wenn ein direkter Gegenvorschlag die Anliegen der Befürworter der Masseneinwanderungs-Initiative berücksichtige und gleichzeitig die Personenfreizügigkeit aufrecht erhalte, sagte Co-Autor Maximilian Stern.
Auch foraus halte die vom Bundesrat angestrebte Verhandlungslösung mit der EU-Kommission für den besten Weg, betonte deren Präsident Nicola Forster. Sie sei aber höchst unsicher. Und die Rasa-Initiative, die den Zuwanderungsartikel der MEI wieder aus der Verfassung streichen wolle, sei keine Option. Wenn die Rasa-Initiative scheitere, wirke das wie eine «Durchsetzungsinitiative», gab er zu bedenken.
Fünf Bundeshausfraktionen unterstützten den Vorschlag
Auch bei den Parteien ist die Rasa-Initiative nicht gut angekommen. Der Gegenvorschlag von foraus hingegen stösst in einer ersten Bewertung auf viel Wohlwollen. Zustimmung findet vor allem der Ansatz, den Zuwanderungsartikel nicht zu streichen, sondern zu differenzieren. Für Ständerat Daniel Jositsch (SP/ZH) ist der präsentierte Gegenvorschlag von foraus «ein Weg, weiterzudenken».
Die CVP wolle die Zuwanderung steuern, ohne den bilateralen Weg in Frage zu stellen, sagte Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP/BL). Im Gegenvorschlag seien alle Ideen in diese Richtung zusammengefasst. «Das hat mich begeistert.»
Für Balthasar Glättli (Grüne/ZH) geht es darum, den «falschen und missverständlichen Artikel» zu streichen und durch etwas Neues zu ersetzen. Der Gegenvorschlag habe auch «grosses Potenzial», die Rechtsunsicherheit für die Wirtschaft zu beenden, sagte Nationalrat Beat Flach (GLP/AG).
Zuerst Brexit-Abstimmung abwarten
Bei der Präsentation des «Konkordanzartikel» in Bern erklärte sich aber noch kein Politiker ausdrücklich bereit, den direkten Gegenvorschlag von foraus ins Parlament zu bringen. Wie der Bundesrat warten auch sie noch auf das Resultat der Abstimmung in Grossbritannien über einen Austritt aus der EU (Brexit). Erst dann werde sich zeigen, wie gross die Chancen einer Verhandlungslösung sind. Aber «dieser Gegenvorschlag wäre ein tauglicher Ansatz», sagte Schneider-Schneiter.