Als Max Beelers jüngste Tochter volljährig wurde, strich ihm die Ausgleichskasse von Appenzell Ausserrhoden die Witwerrente. Wäre er eine Frau, wären die Zahlungen weiterlaufen. Und eine Frau bekommt auch dann eine Witwenrente, wenn sie gar keine Kinder hat.
Gegen diese Ungleichbehandlung klagte Beeler und bezog sich dabei auf den Verfassungsgrundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Doch damit drang er nicht durch, nicht kantonal und auch nicht vor Bundesgericht.
Deshalb wandte er sich an den EGMR, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort bekam er recht, erstinstanzlich bereits im Oktober 2020. Die Schweiz zog den Fall weiter vor die Grosse Kammer.
EGMR widerspricht Bild des «Haupternährers»
Die Urteilsverkündung erfolgte nun mündlich. Das ist in Strassburg eine Ausnahme und signalisiert, welche Bedeutung der Gerichtshof dem beimisst. Mit zwölf zu fünf Stimmen entschied die Grosse Kammer zugunsten des Witwers, und das wegen ungleicher Behandlung, wie Gerichtspräsident Robert Ragnar Spada erläuterte.
Die Schweizer Behörden hatten in Strassburg, wie zuvor schon das Bundesgericht, argumentiert, die Ungleichbehandlung sei vom Gesetzgeber gewollt. Das heisst: Basierend auf einem bestimmten Gesellschaftsbild gelten Männer grundsätzlich als Haupternährer. Ihnen wird zugetraut, den Lebensunterhalt selber zu fristen. Frauen jedoch nicht. Ihnen steht daher lebenslänglich eine Witwenrente zu.
Nachzahlungen in Millionenhöhe zu erwarten
Die Strassburger Richterinnen und Richter akzeptieren diese Deutung jedoch nicht: Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels sei die Rolle von Frauen im Berufsleben mittlerweile eine ganz andere, sehr viel wichtigere. Daher verletze die Schweizer Regelung von Witwen- und Witwerrenten Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Männer würden diskriminiert.
Das letztinstanzliche Strassburger Urteil hat für die Schweiz Konsequenzen: Sie muss nun Max Beeler – und allen anderen Männern, die gegen ihre Diskriminierung geklagt haben – die Witwerrenten nachzahlen.
Allein das dürfte Kostenfolgen in Millionenhöhe haben. Vor allem aber müssen Bundesrat und Parlament nun die AHV-Gesetzgebung reformieren und diese bei den Hinterbliebenenrenten diskriminierungsfrei gestalten.
Verschiedene Lösungen möglich
Das passiert entweder durch eine Anpassung der Renten für Witwer, indem die Zahlungen unabhängig davon erfolgen, ob ein Mann Kinder hat und ob diese minderjährig sind. Das wäre die teure Variante. Oder es kommt – was politisch weitaus schwieriger durchzusetzen wäre – zu Einschränkungen bei den Renten für Witwen.
Anzunehmen ist zudem, dass die Verurteilung der Schweiz die Diskussion befeuert, ob sich der Menschenrechtsgerichtshof unzulässig in innere Angelegenheiten der Schweiz einmischt. Manche bezeichnen die Strassburger Richter als übergriffig. In diesem Fall urteilten diese jedoch in einem Kernbereich der Menschenrechte, beim Verbot der Diskriminierung. Genau für solche Dinge ist der EGMR zuständig.