Jugendliche mit Autismus, denen das Essen verweigert wurde oder die am Boden entlang geschleift wurden: Die Vorwürfe gegen das Genfer Heim Mancy wiegen schwer, vor allem auch weil mehrere der Opfer so stark an Autismus leiden, dass sie sich nicht mit Worten ausdrücken können. In einem Fall ermittelt sogar die Staatsanwaltschaft wegen einer mutmasslichen Vergiftung, weil einer Jugendlichen ein nicht verschriebenes Medikament verabreicht wurde.
Heute stellte das Genfer Bildungsdepartement einen Untersuchungsbericht zu den Vorkommnissen im Heim vor, das wegen mutmasslicher Gewalt durch das Pflegepersonal seit Monaten in den Schlagzeilen ist. Der Kanton hatte die externe Untersuchung im Herbst eingeleitet.
Bericht: Probleme bestehen seit Jahren
Co-Autor Pierre-Alain Dard sprach dabei auch mit den Eltern von sieben Kindern. Nach einiger Zeit im Heim hätten manche sogar Rückschritte in der Entwicklung der Kinder festgestellt, sagt Dard: Plötzlich konnten sie beispielsweise nicht mehr selbstständig essen.
Die Probleme bestanden gemäss der Untersuchung seit der Eröffnung des Heims vor vier Jahren. Schon damals waren die Gebäude veraltet und ungeeignet für ein Heim. Und auch das Personal war zu wenig ausgebildet und wurde zu oft ausgewechselt.
Wichtige Fragen noch unbeantwortet
Ob im Heim Gewalt ausgeübt wurde, hat die externe Untersuchung wegen ihres begrenzten Mandats nicht klären können. Der Kanton wollte nicht der Staatsanwaltschaft vorgreifen, die ebenfalls ermittelt.
Mit dem heute veröffentlichten Bericht steht aber fest: Der Kanton führte in seinem Heim für Autisten keine regelmässigen Kontrollen durch. Und schon früh geäusserte Meldungen von Pflegern und Eltern wurde nicht gründlich nachgegangen.
Dard stellt dazu fest: «Es gibt ein definiertes Vorgehen für Vorwürfe wegen Misshandlung. Dieses wurde schlicht nicht eingehalten. Ob die Vorwürfe zutreffen oder nicht – sie sind lückenhaft behandelt worden.»
Es gibt ein definiertes Vorgehen für Vorwürfe wegen Misshandlung. Dieses wurde schlicht nicht eingehalten.
Bildungsdirektorin räumt erneut Fehler ein
In Genf ist durch die Vorfälle im Heim Mancy die Bildungsdirektorin Anne Emery-Torracinta von der SP massiv unter Druck geraten. Sie musste heute erneut einräumen, dass der Kanton bei der Betreuung dieser Kinder gescheitert ist.
In der Genfer Öffentlichkeit wurde ihr in den letzten Wochen vorgeworfen, zu spät auf die Meldungen reagiert zu haben. Viele stellten in Genf die Frage nach ihrer persönlichen Verantwortung. Sie habe zu stark der Einschätzung der zuständigen Amtsstellen im Bildungsdepartement geglaubt, sagte Torracinta heute erneut. In der Tat macht der Bericht das lückenhafte Vorgehen dafür verantwortlich, dass Probleme nicht bis ganz oben gemeldet wurden.
Weiterer Druck zu erwarten
Emery-Torracinta dürfte in Genf auch nach diesem Bericht unter Beschuss bleiben, vor allem von der FDP. Diese hat nach dem Partei-Ausschluss und der Abwahl von Pierre Maudet nur noch einen Sitz in der siebenköpfigen Regierung und bereitet das Terrain für die Genfer Wahlen in einem Jahr vor. Ungemach droht der Bildungsdirektorin zudem von einer zweiten Untersuchung, welche das Kantonsparlament eingeleitet hat.
Das Heim Mancy bleibt derweil offen. Zum einen, weil sich die Betreuung verbessert haben soll. Zum anderen, weil es die raren Betreuungsplätze dringend braucht.