Ein freundliches Lächeln, Hemd, Hose, Schuhe, Rucksack: Alles schwarz. Yvan Luccarini ist kein Stadtpräsident, den man auf der Strasse als solchen erkennen würde. Der 50-Jährige schaut über die Place du Marché – der Zankapfel in Vevey.
Weniger Parkmöglichkeiten, mehr Pflanzen
Ungefähr alle 20 Jahre findet hier die Fête des Vignerons statt – aber in den zwei Jahrzehnten dazwischen gibt es nur einen Wochenmarkt und Parkplätze. Viele Stadtbewohner sind damit unzufrieden.
Jetzt soll es weniger Parkplätze geben, die Stadt pflanzt Bäume an den Flanken. Für die Fête des Vignerons heisst das: Eine so grosse Arena wie 2019 hat nicht mehr Platz. Für Luccarini ist das kein Problem.
Immer noch grösser, schneller, höher, das ist der Zeitgeist.
«Das ist vielleicht auch eine Form von weniger Wachstum. Bei der letzten Ausgabe 2019 war alles überdimensioniert: Immer noch grösser, schneller, höher, das ist der Zeitgeist.» Da stelle sich die Frage, ob das nicht auch sparsamer geht, so Luccarini.
Taktik – gefragt im Billard und in der Politik
Luccarini kam erst als Mittdreissiger nach Vevey. Vorher brach der Genfer eine Informatikschule ab und machte dann seine Leidenschaft zum Hobby: Billard. Mit 25 Jahren eröffnet er in Carouge eine Billardhalle.
Nach sechs Jahren hat er genug. Er verfasst mit einem professionellen Billard-Spieler in Vevey ein Standardwerk zum Sport. Billard helfe ihm bis heute, auch in der Politik. «Die Taktik hilft, das braucht es auch in der Politik, und vor allem die Ausdauer: Billard ist nicht so anstrengend, aber es dauert. Und die Konzentration ist wichtig – auch in der Politik.»
Billard ist nicht so anstrengend, aber es dauert. Und die Konzentration ist wichtig – auch in der Politik.
Luccarini arbeitete nach dem Buch als Drucker, als Briefträger und an der Theke eines Bio-Lebensmittelladens – zu kleinen Pensen, um Zeit für die beiden Töchter zu haben.
Er trotzte der Kritik
Nebenbei las er Sachbücher zu Wachstums- oder Kapitalismuskritik und gab eine Zeitschrift zu diesem Thema heraus. Immer öfter diskutierte er seine Ideen mit Freunden und musste sich anhören: Das funktioniert sowieso nicht, wenn du kandidierst, wird dich niemand wählen! 2010 trat er bei den Gemeindewahlen an.
In Vevey geht es weiter dem Seeufer entlang bis zum Hauptquartier von Nestlé – ein imposanter Bau aus Glas und Beton. Man wolle «Alternativen zum Kapitalismus präsentieren, damit die künftigen Generationen eine Zukunft hätten», heisst es im Parteiprogramm von «décroissance alternatives».
Der falsche Ort für Idealismus
Luccarini stimmte für die Konzernverantwortungs-Initiative. Nestlé habe wohl nicht gerade eine Krisensitzung wegen seiner Wahl abgehalten, sagt er schmunzelnd.
Mit Nestlé werde er als Stadtpräsident sicher Gespräche führen, aber seinen Idealismus müsse er in seiner Funktion wohl beiseitelassen. «Die Stadt als Behörde und ich als Präsident – das ist nicht der richtige Rahmen, um antikapitalistische Ideologien zu verbreiten. Aber falls Nestlé sich für diese Themen interessiert, dann bin ich natürlich offen für den Dialog.»
Die Wirtschaft in Vevey reagiert noch zurückhaltend auf die Wahl Luccarinis. Nach der chaotischen Legislatur der letzten Jahre könne es sowieso fast nur aufwärtsgehen, sagt Jacqueline Moser von der Gewerbevereinigung. Der Stadtpräsident werde schon noch mit der Realität konfrontiert.
Die Gewerbler schauen der Zeit unter dem neuen Stadtpräsidenten Yvan Luccarini gespannt entgegen – wie viel Wachstumskritik in Vevey bleibt, wird sich in den nächsten vier Jahren zeigen.