«Bleiben Sie zuhause» – so das Credo des Bundesrats vor ein paar Wochen. Für viele ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen hiess das, nicht einmal mehr die Einkäufe selber erledigen. «Es war nicht einfach für mich, Hilfe anzunehmen. Mein Leben lang arbeitete ich selber im Gesundheitswesen, habe immer für die anderen geschaut», sagt Rentnerin Hedi Burri aus dem Aargau.
Sie sei noch fit und könnte mit ihren 70 Jahren eigentlich gut selber einkaufen. Seit 13 Wochen nun übernimmt das der 22-jährige Stephan Villiger, ein gelernter Maler aus der Nachbarschaft. Ermöglicht hat dieses Tandem eine Gruppe Freiwilliger, die kurzerhand den Verein «Gemeinsam und solidarisch – Bezirk Bremgarten» gegründet haben, um die Nachbarschaftshilfe besser und nachhaltig zu organisieren.
Unzählige Freiwillige
Bremgarten ist eines von vielen Beispielen. Schweizweit bildeten sich innert Kürze tausende Whatsapp- und Facebook-Gruppen, um gefährdeten Personen in der Nachbarschaft zu helfen. Doch die Freiwilligen, die Hilfe anboten und die, die Hilfe benötigten, fanden sich nicht immer. Campaigner Alessandro Iacono etwa gründete deshalb zusammen mit Kollegen die Webseite hilf-jetzt.ch – eine Plattform, auf der man via Postleitzahl-Suche direkt zu den Gruppen gelangt. «Mich hat überrascht, wie viele Menschen sich engagierten», so Iacono.
Dass sich Menschen solidarisch zeigen, sei typisch für Krisen, sagt Isabelle Stadelmann-Steffen, Professorin an der Universität Bern. Die Politologin forschte unter anderem zu unbezahlter Arbeit. «Aus der Freiwilligenforschung weiss man, dass sich gerade jüngere Leute gerne projektbezogen engagieren. Sie wollen sich nicht für zehn Jahre verpflichten – sondern helfen, wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Die Krise ist gewissermassen so ein Projekt.»
Kippt die Solidarität bei einer Wirtschaftskrise?
Das Risiko sei allerdings, dass die Solidarität ein zeitlich begrenztes Projekt bleibe. Zunächst hätten wir uns vor allem einer Gesundheitskrise befunden, bei der die Notwendigkeit ersichtlich war. «Wenn die Wirtschaftskrise mehr in den Vordergrund rückt, könnte das Ganze kippen», so Stadelmann-Steffen. Dann würden sich die Leute wieder vermehrt um ihre eigenen Bedürfnisse sorgen.
Dennoch: die Rückmeldungen, die Alessandro Iacono von den Freiwilligen erhält, stimmen positiv. «Unsere letzte Umfrage hat gezeigt, dass sich 20 Prozent der Gruppen überlegen, wie sie nach Corona weiter bestehen können.» Für den jungen Maler aus dem Aargau ist schon jetzt klar: Er wird weiterhin helfen. «Ich habe durch diese Erfahrung gesehen, dass viele ältere Leute auch unabhängig von Corona Hilfe brauchen könnten – etwa für die Entsorgung des Mülls.»
Und was sagt die Forschung? Isabelle Stadelmann-Steffen relativiert den nachhaltigen Effekt der Krise auf die Solidarität. Generell sei immer nur eine Minderheit der Bevölkerung bereit, sich freiwillig zu engagieren. Das werde sich wohl nicht ändern. «Aber in einer Zeit, in der man immer wieder sagt, die Gesellschaft sei immer egoistischer und unsolidarischer, zeigt die Krise, dass solidarisches Verhalten wenn nötig mobilisierbar ist.»