Die Familie aus Afghanistan hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde gegen die Schweiz eingereicht. Der Grund: Bern hatte ihren Asylantrag abgelehnt und die Rückschaffung nach Italien beschlossen. Angesichts der Zustände in Italiens Asylunterkünften sei die Rückschaffung unzumutbar, macht die Familie in Strassburg geltend. Kommt sie mit ihrer Beschwerde durch, hat das weitreichende Konsequenzen.
Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass jenes europäische Land für einen Asylantrag zuständig ist, in dem ein Asylbewerber zuerst ankommt. In vielen Fällen ist dies Italien. Flüchtlinge landen oft nach beschwerlichen und gefährlichen Bootsfahrten im südlichen Nachbarland.
So auch die ursprünglich aus Afghanistan stammende achtköpfige Familie, die nun in Strassburg gegen die von Bern verfügte Rückschaffung klagt: Vater, Mutter und inzwischen sechs Kinder, das jüngste wurde in der Schweiz geboren.
Hoffnungslos überfüllte Lager
Die Familie blieb nach der erschöpfenden Überfahrt in einem überfüllten Boot ohne Nahrung und Wasser nur wenige Tage in Italien, musste dort jedoch schlimme Erfahrungen machen, wie ihre Anwältin Bregnard Ecoffey erklärt. Das Auffanglager von Bari sei hoffnungslos überfüllt gewesen.
«Sie wurden Zeugen von Streitereien mit dem blanken Messer, die Kinder konnten wegen des Zigarettenrauchens der andern kaum atmen», so Ecoffey. «Es gab endlose Warteschlangen fürs Essen, es fehlte eine Krankenstation und der Zustand der Toiletten war ekelerregend.» Es bestehe die Gefahr, dass die Familie in Italien in Slums oder gar auf der Strasse leben müsse und dass sie getrennt werde.
Bern hält an Rückschaffung fest
Doch Bern hält an der Ausweisung der Familie fest. Das Dublin-Abkommen baue darauf auf, dass jedes Mitgliedsland die fundamentalen Rechte der Asylbewerber respektiere, sagt der Schweizer Vertreter vor dem Gerichtshof, Frank Schürmann. Die Familie riskiere in Italien keine unmenschliche Behandlung. «Lager für Dublin-Rückschaffungen haben nichts mit Lagern wie jenen in Lampedusa zu tun», fügt eine Sprecherin des Bundesamts für Justiz hinzu.
Auch die Vertreterin Italiens vor dem Gerichtshof, Paola Accardo, beruhigt, die Familie habe nichts zu befürchten: «Zu unerfreulichen Episoden in Flüchtlingslagern kommt es nur, wenn ein neues Boot eintrifft. Aber die betroffene Familie wird bis zum Asylentscheid sicher eine angemessene Beherbergung erhalten.»
Doch Philippe Bovey widerspricht. Er ist vom Hilfswerk der evangelischen Kirchen, das die Beschwerde in Strassburg finanziell ermöglicht hat. «Wie bestreiten diese Aussagen. Die Situation in Italien ist sehr schwierig. Es fehlen Zehntausende von Unterkunftsplätzen. Es gibt keine Strukturen für grosse Familien. Man kann nicht einfach annehmen alles sei gut, sondern man muss dies im Einzelfall überprüfen.»
Urteil mit Spannung erwartet
Bisher hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte alle Beschwerden gegen Abschiebungen aufgrund des Dublin-Abkommens abgelehnt. Es ist jedoch ungewöhnlich, dass ein Fall wie dieser sofort an die Grosse Kammer überwiesen wird. Das könnte bedeuten, dass eine Änderung in der Rechtsprechung bevorsteht.
Falls die Richter tatsächlich ein Grundsatzurteil zugunsten der Familie fällen würden, hätte dies einschneidende Auswirkungen. Die Schweiz könnte keine Asylbewerber mehr nach Italien zurückschicken, bis sich die Situation dort gebessert hat. Im letzten Jahr waren das 3000 Personen.