SRF News: Michel Rudin, welches waren aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren die wichtigsten Fortschritte für die Gay Community in der Schweiz?
Michel Rudin: Die Entwicklung ist auf zwei Ebenen erfreulich: Auf Gesetzesebene haben wir beispielsweise mit dem Partnerschaftsgesetz schon vor über 10 Jahren die «Ehe light» erreicht. Und natürlich ist auch die Stiefkindadoption, die das Parlament kommende Woche auch noch formal beschliessen wird, ein riesiger Fortschritt.
Auch bezüglich gesellschaftlicher Akzeptanz hat sich in der Schweiz einiges getan. Homosexualität ist nicht mehr derart ein Thema wie früher. Auch möchte kaum jemand den Zustand vor dem Partnerschaftsgesetz zurück. Umfragen belegen gar, dass es für die komplette Ehe-Öffnung mittlerweile eine grosse Mehrheit gibt. Und die CVP-Initiative gegen die Heiratsstrafe fand insbesondere wegen der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare keine Mehrheit.
Dennoch bleibt noch viel zu tun. Die Schweiz belegt im Bezug auf die Rechte Homosexueller und Transgender-Menschen im europäischen Vergleich gerade mal Platz 23.
Haben diese Entwicklungen aus Ihrer Sicht zu lange gedauert?
Es gibt eine jahrhundertealte Tradition der Unterdrückung Homosexueller. Insofern hat es natürlich viel zu lange gedauert, bis wir an dem Punkt ankamen, an dem wir heute in der Schweiz stehen. Und nach wie vor wurde jeder dritte Homosexuelle am Arbeitsplatz schon einmal gemobbt oder diskriminiert. In den letzten Jahren hat sich die Entwicklung zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz aber schon auch spürbar beschleunigt.
In welchen Bereichen sind Ihrer Ansicht nach weitere Fortschritte nötig?
Sicher bei der Ehe-Öffnung. Das heisst, dass homosexuellen Paaren nach der eingetragenen Partnerschaft endlich auch die reguläre Ehe zugestanden wird. Und auch im Bereich der Adoption streben wir die vollständige Gleichberechtigung mit heterosexuellen Paaren an. Ein wichtiges Anliegen ist uns aber auch, das Antirassismus-Gesetz zu einem Antidiskriminierungs-Gesetz zu machen. Auch die verallgemeinernde Verunglimpfung Homosexueller muss strafbar sein.
Auch die verallgemeinernde Verunglimpfung Homosexueller muss strafbar sein.
Sie haben dies auch schon im Zusammenhang mit Äusserungen beispielsweise des Churer Bischofs Vitus Huonder gefordert. Wie sehen Sie die Haltung der Landeskirchen abseits solcher konservativen Strömungen?
Grundsätzlich machen sie die gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr Akzeptanz mit. Allerdings dürfte dies zuweilen schon noch etwas schneller gehen. Auch wenn ihre gesellschaftliche Bedeutung in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, sind die Kirchen nach wie vor normgebende Instanzen. Und schliesslich gibt es auch unter den Gläubigen Homosexuelle. Es braucht deshalb auch in diesem Bereich ein Bekenntnis der Landeskirchen zu einer liberalen Gesellschaft.
Es braucht ein Bekenntnis der Landeskirchen zu einer liberalen Gesellschaft.
In den USA hat das Oberste Gericht vor fast genau einem Jahr die Homo-Ehe bundesweit zugelassen, in Kolumbien fiel vor wenigen Wochen ein entsprechendes Urteil. Wie sehen Sie die Entwicklung der Stellung Homosexueller weltweit?
Es gibt zwei Strömungen: Einerseits ist in westlichen Industriestaaten, aber auch in Teilen Asiens, eine Öffnung im Gang. Auf der andern Seite stehen neben den islamistisch dominierten Gebieten im nahen Osten auch christlich und muslimisch konservativ geprägte Länder wie Russland oder manche afrikanische Staaten. Es scheint, dass sich diese in einer Art Kulturkampf auch über die Diskriminierung Homosexueller vom liberalen Westen abgrenzen wollen.
Was wünschen Sie sich heute für die Zukunft?
Essentiell sind sicher die angesprochenen Fortschritte im Bereich der rechtlichen Gleichstellung Homosexueller. Ich glaube schon, dass wir das in den nächsten fünf Jahren schaffen könnten. Nur reicht das noch nicht. Es braucht auch die gelebte Akzeptanz, und da sind schon noch weitere Fortschritte nötig. Wir müssen an einer Normalität arbeiten.
Die Gay Community reicht vom Boa-Träger bis zum Bünzli.
Die Gay Community ist derart breit aufgestellt, sie reicht vom Boa-Träger bis zum Bünzli. Insofern möchte ich es schon noch erleben, dass wir als ganz normaler Querschnitt durch die Gesellschaft wahrgenommen werden, der wir letztlich sind.