SRF: Hat die Fukushima-Katastrophe die Schweizer Politiklandschaft verändert?
Michael Hermann: Klar ist, das Ereignis hat in der Schweiz die Energiepolitik zu einem Schlüsselthema gemacht. Fukushima sorgte kurzzeitig für ähnliche Emotionen wie die EU- oder Migrationspolitik. Das Unglück in Japan hat den politischen Diskurs und den Wahlkampf 2011 massiv geprägt.
Erstaunlicherweise konnten die Grünen nicht vom Fukushima-Effekt profitieren. Warum?
Die Grünen waren tatsächlich vor 2011 im Aufwind, seither verlieren sie fast überall. Das Ende des Booms der Grünen begann aber schon vor Fukushima und dürfte eher Ausdruck eines langfristigen Zyklus sein. Womöglich hätten die Grünen allerdings ohne Fukushima noch mehr verloren. Auffällig ist jedoch, dass ihnen die Klimadebatte Ende der Nullerjahre mehr geholfen hatte.
Was machte die Partei falsch?
Im Nachhinein lässt sich sagen, dass die Partei das Thema Atomausstieg vernachlässigt hatte – gerade im Vergleich zu den deutschen Grünen. Auffällig ist, dass das Herzblut vieler Grünen nicht bei Energiefragen liegt. Die Schweizer Grünen waren seit jeher ein Sammelbecken der alternativen Linken – der Kampf gegen den Polizeistaat oder der Asylbereich waren und sind für sie eben so wichtig wie die Umweltfrage. Dort stand immer der Klimawandel im Vordergrund.
Das blieb auch nach dem 11. März 2011 so.
Vor der Fukushima-Katastrophe war die Atomstromdebatte der Grünen eingeschlafen, anschliessend konnte man nicht mehr auf den Zug aufspringen. Insbesondere weil sich die Debatte in die Mitte verlagerte, wo sich die Bürgerlichen ein Wettrennen um die Energiewende lieferten. Den Grünen wurde der Wind aus den Segeln genommen.
Waren also die Grünliberalen die heimlichen Sieger von Fukushima?
Die Grünliberalen haben bei den Wahlen 2011 stark zugelegt, der Trend zeigte aber schon zuvor steil nach oben. Ob und wie viel Fukushima zum Resultat beigetragen hat, wissen wir nicht. Sachpolitisch gehörten sie aber sicher zu den Siegern, da sie bei der Ausgestaltung der Energiewende eine wichtige Rolle spielen konnten.
Heute scheint der Fukushima-Effekt in der Schweizer Politik vollständig verschwunden zu sein.
Ja, das Thema ist im Gegensatz zu EU- oder Migrationsthemen sehr stark an nur ein Ereignis gebunden. Energiethemen sind im Alltag weniger verankert als beispielsweise die Migration. Deshalb ist der Fukushima-Effekt in der Schweiz sehr schnell verblasst. Gemäss Angstbarometer von gfs-zürich ist die Furcht vor einer Atomkatastrophe wieder auf dem Niveau von vor Fukushima.
Was ist das Vermächtnis der Fukushima-Katastrophe für die Schweizer Politik?
Das Ereignis führte zu einer Weichenstellung in der Energiepolitik. Die Schweiz beschloss die Energiewende – ein neues AKW ist gegenwärtig kein Thema mehr. Im Parlament gibt es neue Mehrheiten. Früher war das bürgerliche Lager in der Energiefrage eine feste Grösse, seither gibt es einen starken Mitte-links-Block. Fukushima hat also einen viel grösseren Einfluss auf die Energiedebatte als auf die Parteienlandschaft ausgeübt.
In Japan will die Regierung wieder auf Atomstrom setzen. Ist auch die Schweiz bald wieder bereit für ein neues AKW?
Die zeitliche Distanz zum Ereignis führt zwangsläufig zu einer Verwässerung der politischen Positionen. Kurz nach der Katastrophe wollte die Schweiz das letzte Kernkraftwerk 2034 vom Netz nehmen, mittlerweile wurde dieser Zeitpunkt weit nach hinten verschoben. Es ist nicht auszuschliessen, dass die Schweiz wieder Atomkraftwerke baut. Dafür ist der politische Wille für alternative Energie hierzulande zu wenig ausgeprägt. Die Energiewende wird noch ein sehr langwieriger Prozess.
Das Interview führte Benedikt Widmer.