Gegen ihren Willen hielt der Schweizer Dschihadist Alperen A. seine deutsche Ehefrau Johanna* seit Oktober 2014 im syrischen Kriegsgebiet fest. Alperen A. hat sich der Jabhat Al- Nusra angeschlossen, dem regionalen Ableger der Al Kaida in Syrien. Er nutzt im Netz seinen Kampfnamen: Muhammad Abdulfattah al-Almani. Anfang März gebar Johanna dort ihre gemeinsame Tochter. Am Samstagabend liess er beide überraschend ziehen und setzte Mutter und Tochter im türkisch-syrischen Grenzgebiet nahe der türkischen Stadt Reyhanli auf freien Fuss. Sie befinden sich in der Obhut des deutschen Auswärtigen Amtes in der Türkei. Johanna und ihre Tochter werden medizinisch betreut. Ihre Ausreise nach Deutschland wird vorbereitet.
- Warum haben sich Johanna und Alperen A. dem radikalen Islamismus zugewendet?
An einem Samstag im Sommer 2013, während der «Street-da‘wa», einer Verteilaktion von Koranen, konvertiert Johanna in der Stuttgarter Fussgängerzone vor der Kulisse eines haushohen Säulengangs zum Islam. «(...) ich habe gestern den Islam angenommen Herz (...) Ich weiss nicht, was ich sagen soll, so glücklich bin ich Herz (...).» Der Eintrag auf Facebook ist mittlerweile gelöscht.
Ebenfalls im Sommer 2013 nimmt Alperen A. Kontakt zu «Lies!» auf: «Ich lebe in der Schweiz, die da‘wa, die hier herrscht ist sehr gering (...). (...) Ich möchte Brüder zusammensammeln, damit wir wie in Deutschland mehrere Infostände aufbauen können. (...).» Gemeinsam mit seinen Glaubensbrüdern verteilt er Korane in Schweizer und deutschen Innenstädten. Über «Lies!» macht er die Bekanntschaft mit dem deutschen Islamisten Sabri Ben Abda. Gegen Ben Abda ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln. Er soll im Mai 2014 an der Entführung von zwei Entwicklungshelfern der deutschen Hilfsorganisation «Grünhelme» in der nordsyrischen Stadt A’zaz beteiligt gewesen sein.
Auch bei der Organisation «Helfen in Not» arbeitet er mit, hielt bis vor kurzem aus Syrien über Facebook Kontakt zu Mitarbeitern des Vereins. Der Verein mit karitativ klingendem Namen wird in Deutschland seit Herbst 2013 vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz beobachtet. Im August 2013 überführt Alperen A. einen ausgedienten Krankenwagen aus dem Raum Lörrach nach Syrien. Dort werden solche ausgemusterten Ambulanzen oft als getarnte Transportfahrzeuge für Kämpfer genutzt.
- Wer unterstützt die Organisation «Lies! – Die wahre Religion»? Und welche Rolle spielen diese bei der religiösen Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Personen?
«Lies! – Die wahre Religion», gegründet von dem Salafisten-Prediger Ibrahim Abou-Nagie. Er gilt als schillernde Figur in der deutschsprachigen salafistischen Szene. Seit Anfang April 2015 steht dieser vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft Köln wirft ihm vor, unberechtigt Sozialleistungen in Höhe von knapp 54’000 Euro bezogen zu haben.
Ungeklärt ist, wer die Organisationen «Lies! – Die wahre Religion» finanziert. Die Organisatoren geben selbst an, dass sie bereits in elf europäischen Ländern Korane verteilen würden. Schweizerische und deutsche Sicherheitsbehörden werten das Projekt als Rekrutierungsaktion, in der junge Menschen für einen radikal interpretierten Islam geworben werden. Oftmals konvertieren Personen an den «Lies!»- Ständen zum Islam. Sie werden von ihren neuen Glaubensbrüdern und -schwestern in Moscheevereine und Gebetsräume gebracht, die den Islam wahabitisch oder salafistisch interpretieren und die Teilnahme am Dschihad propagieren.
- Was ist «Street da’wa»?
«Street da’wa» steht für die missionarische Aktivität zur Bewerbung des Islams auf der Strasse. Auch das Projekt «Lies! – Die wahre Religion» ist in deutschen und Schweizer Fussgängerzonen aktiv und verteilt dort kostenfrei Korane.
- Welche Rollen spielen soziale Netzwerke im Radikalisierungsprozess von jungen Personen?
Die Familie und die Freunde von Alperen A. können sein Leben in Syrien auf Facebook mitverfolgen: «Der Dschihad ist Pflicht!», gebrüllte Koransuren, Pistolen und Maschinengewehre, ein zerstörter syrischer Hubschrauber am Flugplatz von Taftanaz, wenige Kilometer nordöstlich von Idlib. Der Krieg tobt auch im Netz. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter dienen als Katalysatoren, die die Verbreitung von Propaganda beschleunigen. Auf Youtube finden junge Personen Videos, wieder Propaganda-Material, gedacht zur Radikalisierung und zur Rekrutierung für die Kriege im Irak und Syrien.
Über Whatsapp und diverse Internetplattformen tauschen sich Interessierte, Radikalisierte und Rekrutierer miteinander aus. Auch im Kriegsgebiet dient Whatsapp dann weiter als Kommunikationsinstrument. Johanna schickte regelmässig Sprach- und Textnachrichten an ihre Familie. Ein freudige Nachricht erreichte die Familie Anfang März: Die Tochter von Johanna und Alperen A. ist geboren. Es gehe ihr gut, vermeldete Johanna. Im Krieg.
- Welche Aufgaben übernimmt Alperen A. im Netzwerk der Nusra-Front?
Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft wurden Alperen A. in einem Ausbildungslager der Terrororganisation Jabhat al-Nusra bei Aleppo militärische Grundfertigkeiten vermittelt. Im Dezember folgte nahe der umkämpften ostsyrischen Stadt Manbij eine Ausbildung im Bombenbau. Zum Jahreswechsel wechselte das Paar seinen Aufenthaltsort in den Westen Syriens. Alperen A. schloss sich einer Kampfgruppe der Nusra-Front nördlich von Idlib an.
Gemäss Angaben aus Kreisen der Freien Syrischen Armee (FSA) kann sich Alperen A. seine Ausbildung zum Logistiker zu Nutze machen Auch halten Mitglieder der FSA Alperen A. dafür verantwortlich, ein Selbstmordattentat am 25. März 2015 am nordwestlichen Standrand Idlibs geplant zu haben. Bei dem Anschlag starben 28 Menschen. Amerikanische Sicherheitsbehörden stufen den Schweizer als «äusserst gefährlich» ein.
- Was ist die Terrorganisation Jabhat al-Nusra?
Jabhat al-Nusra wurde im Jahr 2011 gegründet. Kopf der Organisation ist Fatih Abu Muhammad al-Julani. Im April 2013 hat dieser öffentlich den Treueeid auf Ayman al-Zawahiri abgelegt. Die Nusra-Front gilt als Al-Kaida-Regionalorganisation für Syrien. Seit dem Jahr 2013 stuft der Sicherheitsrat der UNO die Nusra-Front als Terrororganisation ein.
- Was machen die Schweizer und die deutschen Strafverfolgungsbehörden?
Die Bundesanwaltschaft in Bern führt seit November 2014 eine Strafuntersuchung gegen den schweizerisch-türkischen Doppelbürger Alperen A. Dazu hatte Bundesanwalt Michael Lauber im Vorfeld der «Rundschau» am 4. März 2015 Stellung bezogen: «Dieser Fall ist für das Phänomen Dschihad-Reisen sicherlich exemplarisch.»
Das Strafverfahren wurde eröffnet wegen des Verdachts, sich an einer verbotenen Gruppierung beteiligt zu haben – dies auf der Grundlage des Art. 2 Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen Al Kaida und Islamischer Staat (IS) sowie verwandter Organisationen. Die Terrororganisation Jabhat al-Nusra gilt als Regionalorganisation der Al Kaida in Syrien. Zudem wird Alperen A. der Unterstützung bzw. Beteiligung einer kriminellen Organisation gemäss Art. 260 Strafgesetzbuch (StGB) beschuldigt.
Da Alperen A. das Schweizer Bürgerrecht besitzt, kann er an einer Wiedereinreise in die Schweiz nicht gehindert werden.
Die Staatsanwaltschaft in Stuttgart ermittelt derzeit zu zwei Tatbeständen gegen Alperen A. Er steht in Verdacht, eine schwere, staatsgefährdende Gewalttat gegen die Bundesrepublik Deutschland gemäss Paragraph 89a StGB vorbereitet zu haben. Des Weiteren prüft die Staatsanwaltschaft Stuttgart, wie Alperen A. wegen des Festhaltens seiner Ehefrau Johanna strafrechtlich belangt werden kann und prüft welcher Strafbestand in Betracht kommt.
- Wie gross ist die Szene der ausländischen Dschihad-Reisenden?
In Syrien und Irak kämpfen mehr als 20'000 ausländische Freiwillige an der Seite radikaler islamistischer Milizen. Die Dschihadisten stammen aus rund 90 Ländern, fast 4000 reisten aus Westeuropa in die Kriegsregionen. Dies ist die grösste Mobilisierung seit dem Jahr 1945 – mehr als im Afghanistan-Krieg in den 80er-Jahren.
Fast 4000 ausländische Kämpfer stammen aus Westeuropa. Die Zahl ist somit laut dem «International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence» (ICSR) am King’s College in London doppelt so hoch wie im Dezember 2013. Hochgerechnet auf die Bevölkerungszahl ist Belgien am stärksten betroffen. Mehr als die Hälfte (11‘000) der fremden Kämpfer stammen aus Nordafrika und dem Mittleren Osten. Tunesien und Saudi-Arabien versuchen seit dem Jahr 2014, mit schärferen Gesetzen gehen Dschihadisten vorzugehen.
Das ICSR geht davon aus, dass 5 bis 10 Prozent der Ausländer im Kampf getötet wurden. Weitere 10 bis 30 Prozent haben entweder die Konfliktzone wieder verlassen, sind heimgekehrt oder stecken in einem Transitland fest.
srf/hesa/sbo
*Name von der Redaktion geändert.