«Ich bekenne, dass ich in diese Regierung kein Vertrauen mehr habe», notiert Max Frisch im Sommer 1990, ein Jahr vor seinem Tod. Soeben hat die Bundesanwaltschaft dem Schriftsteller eine 13-seitige Fiche zukommen lassen. Wie 900‘000 andere «Staatsgefährder», meist aus linken Kreisen, war Frisch jahrzehntelang bespitzelt worden.
In seinem hämischen Kommentar «Ignoranz als Staatsschutz» geisselt er die offizielle Schnüffelschweiz. Und die schrecklich banalen Akteneinträge, die die Jagd nach «Kalten Kriegern» hervorbrachte.
Die Fichenaffäre löste ein politisches Erdbeben aus. Und einer sollte das verlorene Vertrauen in die Schweizer Behörden wiederherstellen – indem er sie kontrolliert: Der Eidgenössische Datenschützer.
Striktes Ficherei-Verbot...
1993 wird die neu geschaffene Position mit dem ehemaligen CVP-Ständerat und Preisüberwacher Odilo Guntern besetzt. Die Mission des Oberwallisers: Den gläsernen Bürger darf es nicht mehr geben. Im prähistorischen Zeitalter der Informationstechnologie heisst das: keine Überwachung von Telefonaten am Arbeitsplatz; keine nachrichtendienstliche «Manndeckung» für unbescholtene Bürger; keine Fragen bei Bewerbungsgesprächen, die über Qualifikation und Lebenslauf hinausgehen.
Und vorderhand scheint alles besser: «Ein Daten-Gau wie beim Fichenskandal hat sich nicht wiederholt. Die Aufsicht hat dazu geführt, dass in der Bundesverwaltung sehr sensibel mit Daten umgegangen wird», bilanziert Datenschützer Guntern 2001, am Ende seiner Amtszeit.
Ernüchterung bleibt trotzdem. Denn der gläserne Bürger ist nicht verschwunden. «In der Wirtschaft haben wir grosse Probleme», sagt Guntern zur Jahrtausendwende. Datenkraken greifen um sich: Cumulus-Karten, elektronische Patientendossiers, virtuelle Geldgeschäfte – alles ist in zentralen Datenbanken gespeichert. Wer sie zusammenführt, hat einen Datenschatz, von dem Ficheure nur träumen konnten. Statt Transparenz von den Behörden fordert Guntern nun «aufgeklärte Sparsamkeit» der Bürger: «Der Einzelne darf seine Daten nicht beliebig bekannt geben.»
...und die Geburt der Datenkrake
Dabei begann alles ganz harmlos. 1993 veröffentlicht Microsoft mit Windows 3.1 das erste kommerziell erfolgreiche Betriebssystem; scheu surren sich in diesen Jahren die ersten Modems ins World Wide Web. Oft verliert sich die Reise im digitalen Nirvana. Doch Datenschützer Guntern prophezeit: «Wir werden es erleben, dass jeder einen Computer bedienen kann wie heute die Television. Hier lauern Gefahren, die auch mit Datenschutz zu tun haben.»
2001 tritt der ehemalige Nationalrat und Grünen-Präsident Hanspeter Thür seine Nachfolge an. Die digitale Revolution nimmt Fahrt auf. Google wird innert weniger Jahre vom ambitionierten Startup zum globalen Grosskonzern mit dreistelligen Milliardenumsätzen; bald schon folgen mit Facebook, Twitter und Co. die sozialen Medien.
Ungeniert füllen Herr und Frau Schweizer Berge persönlicher Daten auf amerikanische Server – ein digitaler Dammbruch. Kundendaten werden zum undurchsichtigen Geschäftsmodell: «Besorgt bin ich nicht nur über das Datenvolumen, sondern vor allem über dessen Auswertung. Hier findet eine rasante Entwicklung statt», so Thür, inzwischen Kulturmanager in Aarau, vor wenigen Wochen.
Die Entwicklung rückgängig zu machen, gleicht einem Kampf gegen Windmühlen. Der digitale Abstinenzler – Thür meidet soziale Medien und benutzt seine Kreditkarte nur in Ausnahmefällen – versucht es trotzdem. Und er feiert 2012 vor Bundesgericht einen Achtungserfolg: Auf seine Intervention hin muss Google Street View sensible Aufnahmen verpixeln; auch das Recht auf Vergessen bei der Google-Suche, das der Europäische Gerichtshof 2012 durchsetzt, begrüsst Thür: «Es ist wichtig, dass in diesem vermeintlich rechtsfreien Raum Grenzen gesetzt werden.»
Der kleine Bruder in der Hosentasche
Derweil freut sich «Big Brother» über die Zulieferdienste des kleinen Bruders, des Smartphones. Die Schlapphüte verschwinden in der Hosentasche. Die Enthüllungen von Whistleblower Edward Snowden kommentiert Thür resigniert: «Es ist immer das Gleiche: Kriminalität und Terrorismus werden als Grund für Verschärfungen herbeigezogen.»
Bei aller Empörung, Thür weiss um die Grenzen der Freiheit: «Die technologische Entwicklung hat dazu geführt, dass herkömmliche Abhörmittel nicht mehr funktionieren – etwa bei der Internet-Telefonie.» So befürwortet er den rechtsstaatlich abgesicherten Einsatz von Staatstrojanern; und das neue Nachrichtendienstgesetz, sofern eine unabhängige Aufsicht installiert wird.
Im Herbst löst das Parlament die Forderung ein. Thür verabschiedet sich mit einem letzten Erfolg in den datenschützerischen Ruhestand.
Umstrittene Nachfolgeregelung
Heute soll die Bundesversammlung Adrian Lobsiger ins Amt hieven – den langjährigen Vizedirektor des Bundesamts für Polizei. Der Rollenwechsel sorgt bei der Linken für Kopfschütteln: «So jemand kann nicht glaubwürdig als Winkelried für die Selbstbestimmung über unsere Daten eintreten», sagt etwa Balthasar Glättli, Fraktionschef der Grünen. Von rechts wird Kritik laut an der mangelnden Wirtschaftskompetenz des Juristen. Parteiübergreifend stört man sich daran, dass ein Mann der Verwaltung diese künftig kontrollieren soll.