Das ist die Geschichte von einem, der im Gefängnis geboren wurde. 1956. Ein Unehelicher. Die Mutter administrativ versorgt. Der Sohn sagt heute: «Das ist verrückt. Eine Schande, dass es überhaupt so etwas gibt. Ein unschuldiges Wesen ist im Gefängnis, sitzt einfach hinter Gittern.» Man hat ihm die Kindheit gestohlen, die Jugend zerstört, Körper und Geist geknechtet. Und jetzt sitzt er da am Tisch.
Der 60-jährige Mann schaut den Besucher skeptisch an. Nothilfe? «Ja, die habe ich beantragt und auch erhalten. 8000 Franken», sagt Walter Emmisberger. Unbürokratisch schnell sei das gegangen mit den Formularen: «Ich weiss, dass sie sogar an den Wochenenden daran gearbeitet haben, die Anträge zu behandeln.»
Die Angst ist immer geblieben
Emmisberger gehört zu den bislang rund 1000 ehemaligen Fremdplazierten, Zwangsversorgten und Verdingkindern, die Geld aus dem Soforthilfefonds erhalten haben; im Schnitt 7300 Franken pro Person: «Da hat sich sicher nicht irgendwer gedacht, da könnte ich jetzt auch noch etwas Geld abschöpfen. Das finde ich auch richtig, dass es die bekommen, die es wirklich brauchen und es nötig haben.»
Emmisberger hat es nötig. Früher hat er zwar als Chauffeur, Plakatierer oder gar als selbständiger Transporteur gearbeitet, doch irgendwann kam seine traumatische Vergangenheit wieder hoch. «Ich arbeite ein bisschen, habe aber auch eine IV-Rente. Ich kann nicht mehr voll arbeiten gehen, es geht nicht mehr.»
Es geht einfach nicht mehr, wegen der Angstzustände, der Panikattacken, der Albträume: «Ich kann vor allem nicht im Dunkeln schlafen. Vielleicht kommt das vom Einsperren in die dunkle Besenkammer. Ich weiss es auch nicht.» Die verheerenden Folgen eines früheren Lebens, das eigentlich gar kein Leben gewesen war.
«...und plötzlich bekommst du Recht»
«Es kommt halt einfach immer wieder; es holt einen immer wieder ein, so ist das einfach.» Mitunter plagt ihn Todesangst. «Diese Angst, die man mir als Kind eingeprügelt hat», erzählt Emmisberger. «Da ist man einfach starr und hat das Gefühl, man kann nicht mehr aufstehen, sich nicht mehr bewegen.»
Und jetzt die Hilfe in der Not. Mit Geld. 8000 Franken. Was hat Emmisberger, der Vater von zwei erwachsenen Töchtern, damit gemacht? «Ich hatte noch offene Rechnungen und habe diese beglichen.» Er habe sich ein paar neue Kleider geleistet. «Ich lebe einfach und brauche keinen extravaganten Sachen.»
Er habe sich überwinden müssen, das Gesuch zu stellen, obwohl er dazu berechtigt war: «Das ist so etwas mit dem Recht. Man hatte nie Recht. Jetzt sollte man plötzlich das Recht auf etwas haben. Man konnte nie etwas fordern, wurde immer weggestossen. Dann hat man plötzlich das Gefühl, man hätte auch darauf kein Anrecht.» Dankbarkeit? Nein, die empfinde er eigentlich nicht. «Man hat es ja irgendwie auch zugute. Man konnte sich im Leben ja nie etwas aufbauen.»
Das Schlimmste waren die Medikamentenversuche. Das hat mir das Leben kaputt gemacht, muss ich sagen.
Stationen eines kaputten Lebens: Kinderheim, Pflegeeltern, Prügel, Missbrauch, auf einen Bauernhof verdingt. Und: «Das Schlimmste waren die Medikamentenversuche. Das hat mir das Leben kaputt gemacht, muss ich sagen. Das war das Traurigste, was man erleben kann.»
An dem 11-jährigen, angeblich schwererziehbaren Knaben wurden in den 60-er-Jahren in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen nicht zugelassene Medikamente getestet. «Bis zum Erbrechen wurden mir Medikamente reingedrückt. Mir war manchmal hundeelend.» Emmisberger soll neben der Nothilfe dereinst vom Bund überdies eine Art Wiedergutmachung, einen einmaligen sogenannten Solidaritätsbeitrag von rund 25'000 Franken erhalten.
Zur Aufbesserung der Rente
Das gilt auch für die 12'000 bis 15'000 weiteren Opfer in der Schweiz. Der Nationalrat hat dazu bereits ja gesagt. Im Herbst dürfte der Ständerat folgen. Danach wird wohl die Wiedergutmachungs-Volksinitiative, die für politischen Druck gesorgt hatte, zurückgezogen. Und was macht Emmisberger mit seinen 25'000 Franken?
«Nichts, das ist meine Pension. Ich habe keine Pension. Das wird zurückgehalten, und nicht gebraucht. Mehr wäre schöner, das ist ganz klar, es ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein.» Trotzdem: «Das ist jetzt einfach ein Stück Anerkennung für mich.» Was ist Glück, fragt man zum Schluss: Meine Familie, sagt Emmisberger. Und Tiere, die mag er: «Die kommen zu dir und tun dir nichts zuleide.»