Die SVP sieht die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Schweiz bedroht – nicht zuletzt durch «fremde Richter» oder die Verhandlungen der Schweiz über ein Rahmenabkommen mit der EU. Das führe zu einem «Ausverkauf der Schweizer Souveränität», warnt die Partei.
Für Historiker André Holenstein machen solche Aussagen wenig Sinn vor dem Hintergrund der internationalen Vernetzung der Schweiz. Statt immer nur von Souveränität zu reden, sei es realistischer, in Kategorien von Beziehungen und Abhängigkeit zu denken. «Die Schweiz kann ihre Entscheide nicht mehr isoliert fällen – aber das können auch die USA nicht. Die amerikanische Nahostpolitik ist dafür das beste Beispiel.»
Am Besten alleine
Holenstein ist der Meinung, die Schweiz hänge an einem Verständnis von Souveränität fest, das längst überholt sei. «Das Beharren auf der nationalen Selbstbestimmung grenzt an Realitätsverweigerung.» Thomas Cottier, Europarechtsprofessor an der Uni Bern, stimmt ihm zu. «Unsere Nachbarländer haben als EU-Mitglieder die Idee eines Nationalstaats, der alleine operiert, aufgegeben – zugunsten einer kooperativen Souveränität», sagt er.
Doch dazu ist die Schweiz nicht bereit. Vielleicht auch, weil hierzulande das Volk ein Wörtchen mitzureden hat und es seine Mitbestimmung nicht einfach aufgeben will. Historiker Holenstein hat eine andere Erklärung dafür, warum die Schweiz so stark an ihrer Souveränität hängt: «Das Land hat das Glück gehabt, von den zwei Weltkriegen verschont zu werden.» Das habe die Schweiz zum Schluss verleitet, dass es ihr immer dann am besten gehen, wenn sie abseits stehe.
Probleme gemeinsam anpacken
«Es dominiert die – falsche – Vorstellung, dass unsere Armee und unserer Neutralität uns bewahrt haben», sagt Holenstein. Und dies, obwohl die Schweiz im zweiten Weltkrieg nur mit Glück davon gekommen sei. Belgien oder Holland – zwei Länder, die ebenfalls neutral waren, von Hitler-Deutschland aber trotzdem besetzt wurden – hätten hingegen eine andere Erfahrung gemacht.
«Sie sind zur Einsicht gekommen, dass es Probleme gibt, die der einzelne Nationalstaat nicht lösen kann.» Deshalb hätten sie sich weniger schwer getan damit, bei der europäischen Integration mitzumachen und dafür einen Teil ihrer Souveränität herzugeben.
Neutralität nicht selbstgewählt
Holenstein plädiert für ein Verständnis der Souveränität, das auch gegenseitige Abhängigkeit mit einschliesst. Schliesslich gebe es die Schweiz heute nur, weil die europäischen Grossmächte dies am Wiener Kongress 1815 so entschieden hätten. «Die Existenz der Schweiz war im Interesse der Grossmächte, doch sie stellten Bedingungen: die Schweiz müsse neutral sein und sich selber verteidigen können.» Und so geschah es dann auch. Das Land wurde neutral und stellte eine Milizarmee auf die Beine.
Weder Souveränität noch Neutralität waren also selbstgewählt, sondern von aussen diktiert. «Überhaupt ist es eine unglaubliche Begriffsverdrehung, wenn man heute Neutralität mit Souveränität gleichsetzt», sagt Holenstein. Die Verpflichtung zur Neutralität sei vielmehr das genau Gegenteil von Souveränität – weil ein Staat damit nicht mehr selber entscheiden kann, wann er einem anderen den Krieg erklärt.
Souveränität als Abgrenzung gegen aussen
Dennoch ist nicht zu erwarten, dass die Schweiz das Hochhalten von Souveränität und Neutralität schnell aufgeben wird. «Während andere Länder sich auf die gemeinsame Kultur, Sprache oder Ethnie berufen, kann das die Schweiz nicht.» Das Land brauche also eine andere Klammer: «Sie findet diese in der Abgrenzung gegen aussen.»