Die Packungsbeilage für ein Medikament verstehen oder einen Brief an die Krankenkasse schreiben, für die meisten Leute ist das keine Hexerei. Aber für rund 16 Prozent der Erwachsenen ist das ein Problem. Diese Menschen haben zwar mindestens neun Jahre lang die Schule besucht – aber ihre Fähigkeiten im Lesen und Schreiben sind beschränkt. Man nennt sie funktionale Analphabeten.
Wer nun denkt, dass seien nur Einzelfälle – gerade in einem Land mit einem guten Schulsystem – der irrt: Gemäss dem Bund sind ganze 800‘000 Menschen davon betroffen. Wobei das nur eine grobe Schätzung ist, wie David Vitali vom Bundesamt für Kultur erklärt: «Die letzte Erhebung wurde vor zehn Jahren durchgeführt. Doch seither ist die Zahl vermutlich nicht gesunken – auch wegen dem Bevölkerungswachstum.»
Ein Alltag voller Hindernisse
Für Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche wird das Leben häufig zur Qual: Sie können etwa ihre politischen Rechte nur ungenügend wahrnehmen, weil sie die Abstimmungsunterlagen nicht verstehen. Oder sie verzichten darauf, ihre Krankenkasse zu wechseln oder sich für eine Stelle zu bewerben, da ihnen die nötigen sprachlichen Fähigkeiten fehlen.
Überhaupt sind sie in der Arbeitswelt stark benachteiligt: Die Abläufe und Aufgaben in den Betrieben werden immer anspruchsvoller, der Druck und die Anforderungen steigen. Wer nicht mithalten kann, fällt raus. Funktionale Analphabeten müssen sich also zunehmend mit schlecht bezahlten Stellen begnügen, und sie haben schlechte Aufstiegschancen. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 sind sie auch häufiger arbeitslos als Menschen mit guter Lese- und Schreibfähigkeit.
Hilfe wäre da, wird aber wenig genutzt
Es gibt verschiedene Organisationen, die funktionalen Analphabeten helfen wollen, zum Beispiel die Stiftung für Alphabetisierung und Grundbildung Schweiz. Geschäftsführerin Elisabeth Derisiotis sagt, dass viele Kantone Lese- und Schreibkurse anbieten, diese Kurse aber nicht sehr oft genutzt würden: «Im Jahr besuchen nur rund 3‘000 Personen solche Kurse.»
Sie fühlen sich als Versager.
Das grosse Problem sei, die Betroffenen zu erreichen. Viele würden sich und ihr Problem verstecken, statt es anzupacken. Weil die Gesellschaft Lesen und Schreiben als selbstverständlich voraussetze, schämten sich viele funktionalen Analphabeten. «Sie fühlen sich als Versager», sagt Derisiotis: «Sie denken: Alle können gut lesen und schreiben, nur ich nicht. Und sie merken nicht, dass sie mit ihrem Problem gar nicht alleine sind.
Ein verstecktes Problem
Hinzu kommt, dass der funktionale Analphabetismus so gut wie keine politische Lobby hat. Das bestätigt Bernhard Grämiger. Er ist stellvertretender Direktor des Verbandes für Weiterbildung. «Die Betroffenen werden zu wenig wahrgenommen. So schreiben sie etwa keine Leserbriefe – aus Angst vor Fehlern. Sondern sie bleiben stumm.»
Einig sind sich die Fachleute, dass der Staat mehr tun könnte, ja mehr tun müsste, um den Betroffenen zu helfen. Bernhard Grämiger vom Verband für Weiterbildung begrüsst zwar, dass es jetzt ein neues Gesetz gibt, das den funktionalen Analphabetismus auch zum Thema macht, nämlich das Weiterbildungsgesetz. Aber die Umsetzung des Gesetzes werde nicht mit letzter Konsequenz in Angriff genommen. «Für den Kampf gegen den funktionalen Analphabetismus gibt der Bund zwei Millionen Franken im Jahr aus, das ist viel zu wenig», sagt Grämiger: «Wir würden viel mehr erwarten.»
Die Politik tut zu wenig
Und David Vitali vom Bundesamt für Kultur doppelt nach: «Es wäre schön, wenn das Thema politisch mehr Gewicht hätte.»
Elisabeth Derisiotis möchte nicht nur Bund und Kantone stärker in die Pflicht nehmen, sondern auch die Firmen. Denn diese würden direkt profitieren, wenn ihre Angestellten besser ausgebildet wären. Doch ihr Ausblick ist wenig zuversichtlich: «Momentan wird in allen Kantonen gespart. Auf der Strecke bleiben dabei die Schwachen.»
Funktionale Analphabeten dürfen also nicht auf Hilfe vom Staat hoffen, sie müssen ihr Schicksal wohl in die eigenen Hände nehmen, wenn sie ihre Lese- und Schreibschwäche bekämpfen wollen.