Sommerferien können für manche Jugendliche zu einer unangenehmen Überraschung führen: Sie fahren ins Heimatland der Eltern oder Grosseltern und werden dort verheiratet – gegen ihren Willen. Es sind vor allem junge Frauen und Männer mit Wurzeln in Sri Lanka, der Türkei oder auf dem Balkan. Gemäss einer Studie gibt es in der Schweiz pro Jahr rund 340 Fälle von Zwangsheiraten und eine vermutlich noch höhere Dunkelziffer.
Betroffene beklagen sich im Gespräch mit der «Tagesschau», dass die Unterstützung durch die Behörden nicht immer optimal verlaufe. Eine junge Schweizerin, die unerkannt bleiben möchte, berichtet, sie sei sechs Monate in der Türkei festgehalten, misshandelt und verheiratet worden:
«Ich war in den Ferien, hatte einen Flirt mit einem Jungen. Seine Familie beschloss dann, wir müssten heiraten. Sie nahmen mir meinen Pass und mein Handy weg. Die Polizei in der Schweiz wurde informiert, das half aber nicht. Sie verwies mich an die türkische Botschaft, die machte aber auch nichts.»
Hilflose Behörden
Dass Behörden so reagieren, ist kein Einzelfall. Anu Sivaganesan, Juristin und Leiterin der Fachstelle Zwangsheirat, berichtet von einem anderen Fall einer Schweizer Bürgerin mit mazedonischen Wurzeln:
«Wir haben zuerst die Schweizer Botschaft in Skopje kontaktiert. Diese benötigte einen behördlichen Auftrag eines Schweizer Wohnkantons. Nach dem Kontakt dort wurden wir ans Aussendepartement verwiesen und beim EDA hiess es schliesslich: kontaktiert doch die Schweizer Botschaft in Skopje.»
Beim Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) kann man den konkreten Fall nicht kommentieren, da man zu wenig Informationen darüber habe. Doch man sei sich der Problematik bei Zwangsverheiratungen bewusst.
Die List mit dem Löffel
Diese Aussage entspricht nicht immer der Erfahrung der Fachstelle Zwangsheirat, erklärt Sivaganesan: «Beim EDA besteht der Wille, der alleine reicht aber noch nicht, es braucht auch eine Hilfe, die ankommt. Es braucht eine zuständige Person beim EDA, die die Fälle, auch die Auslandfälle koordinieren kann.»
Dokumentation
Falls eine junge Frau schon vor der Abreise ahnt, dass im Ausland eine Zwangsverheiratung droht, kann sie die Ausreise im letzten Moment am Flughafen noch selber stoppen. Die Fachstelle empfiehlt dazu, einen Metalllöffel in der Unterwäsche zu verstecken. Weil dann der Metalldetektor reagiert, wird die Frau auf die Seite genommen und sie kann das Sicherheitspersonal informieren.
Staatliches Einschreiten zeigt Wirkung
Bei Verschleppungsheiraten im Ausland besteht durchaus Handlungsspielraum. Das zeigt der Blick ins Nachbarland: Das österreichische Aussenministerium nimmt bei solchen Fällen eine aktive Rolle ein, immer in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden.
Meist seien es NGO, die von Verschleppungsheiraten erfahren und dies an das Ministerium herantragen, sagt Elisabeth Tichy-Fisslberger. Sie leitet die Abteilung im österreichischen Aussenministerium in Wien, in der alle Fäden zusammenlaufen:
«Wenn wir von einem Fall erfahren, stellen sich uns folgende Fragen: Wo befindet sich diese Frau? Sind wir sicher, dass sie weg will von dort? Ist sie nötigenfalls bereit, die Brücken zu ihrer Familie abzubrechen, was manchmal notwendig ist? Kann sie weg? Wenn nicht, wie können wir ihr helfen, dass sie von dort wegkommt? Und wie können wir Kontakte herstellen, zu den lokalen Behörden, deren Hilfe wir meistens brauchen?»
Das Einschreiten von staatlicher Seite sei wichtig, sagt Tichy-Fisslberger, denn offizielle Anfragen würden von den Behörden vor Ort viel ernster genommen. Auch in traditionellen Ländern seien Kooperationen bisher immer möglich gewesen.
Ansonsten kommt es zu recht abenteuerlichen Hilfsaktionen für die Betroffenen. «Wir hatten eine Frau, die in einer Burka verhüllt an ihrem Ehemann vorbeiging, um das Haus zu verlassen. Er hatte sie nicht erkannt. Eine andere junge Frau haben wir mitten in der Nacht abgeholt. Sie hat sich voll bekleidet mit ihren Cousinen in einem Schlafzimmer hingelegt, dort gewartet und ist um 3 Uhr in der Früh davongeschlichen. Es stand ein Auto vor der Tür, das sie dann abgeholt hat», schildert Tichy-Fisslberger.
Engagement des Bundes läuft aus
Zwangsheiraten stehen in Österreich wie auch in der Schweiz (seit 1. Juli 2013) unter Strafe – egal ob die Verheiratung im Inland oder Ausland stattfindet. Der Bund engagiert sich seit 2008 für die Sensibilisierung von Personen, die von Zwangsheirat betroffen sein können und in der Weiterbildung von Fachpersonen, die mit dieser Problematik konfrontiert sind.
Bereits 2010 überwies das Parlament eine Motion von SP-Nationalrat Andy Tschümperlin und ein Postulat von SP-Nationalrätin Bea Heim zu Zwangsverheiratungen. Zur Erfüllung der Vorstösse erstellte das damalige Bundesamt für Migration (BFM) einen Bericht auf der Basis einer Studie der Universität Neuenburg.
Der Bundesrat lancierte in der Folge 2012 ein nationales Programm bis 2017 gegen Zwangsheiraten, das als Ergänzung zum neuen Gesetz gegen Zwangsheirat dient. Die zwei Phasen des Programms laufen im August 2017 aus. Darum wird sich der Bundesrat im Herbst mit dem Thema erneut beschäftigen.