Zucken da Peitschenhiebe über den zugefrorenen See? Handelt es sich etwa um Pistolenschüsse? Oder tummeln sich unter der Eisschicht gar Buckelwale, welche mit ihrem unverkennbar mystischen Gesang auf sich aufmerksam machen?
Spazierende am grössten Oberengadiner See erleben zurzeit reichlich Wundersames. Aus den Tiefen des Sees dringen Geräusche an die Oberfläche. Manche sagen: Der See singt. Das vermeintlich übernatürliche Treiben lässt sich laut Daniel Farinotti, Glaziologe der ETH Zürich, leicht erklären.
Grund sind Temperaturunterschiede
Des singenden Rätsels Erklärung: Spannungen im Eis. «Wie jedes andere Material reagiert auch Eis auf grosse Temperaturunterschiede.» Konkret: Bei einem Temperaturanstieg der Luft dehnt sich die Oberseite der Eisschicht aus, bei einem Temperaturabfall zieht sie sich zusammen.
Die Unterseite der Eisschicht indessen verändert sich aufgrund des Wasserkontaktes kaum. Die Folge: «Schliesslich brechen an der Unterkante der Eisschicht kleine Risse auf. Und dieses Aufbrechen verursacht das Geräusch.»
Wieso der hohe Pfeifton? Auch hierfür liefert die Wissenschaft eine schlüssige physikalische Erklärung: Im Eis kann sich Schall ungleich schneller ausbreiten als in der Luft. Je rascher die Schallausbreitung, desto höher nimmt das menschliche Ohr den Ton wahr.
Keine Seltenheit vor allem bei Seen mit Schwarzeis
Ein singender See sei zwar nicht alltäglich, aber gewiss auch keine Seltenheit, betont Daniel Farinotti. Nebst den Temperaturunterschieden liessen sich die akustischen Effekte vor allem bei Seen beobachten, welche Schwarzeis tragen. Dieses Eis entsteht nur bei einer langen Frostperiode ohne Schneefall. Auch der Silsersee ist zurzeit von eben jenem funkelnden Schwarzeis bedeckt.
Ein atemberaubender Anblick: Die umliegenden schneebedeckten Berge spiegeln sich auf der glasklaren Oberfläche. Wer diese Augenweide mitsamt der magischen Klänge aus der Nähe geniessen will, der könne dies ohne Weiteres tun, sagt Daniel Farinotti. «Die kleinen Risse in der Schwarzeisschicht sind nämlich völlig ungefährlich.» Trotzdem: Das Betreten eines zugefrorenen Sees geschehe auf eigene Gefahr.