Im Februar war nie viel Betrieb in Sacedón. Und als der Schnee kam, schien das kleine Dorf in den Winterschlaf zu fallen. Sacedón liegt 100 Kilometer östlich von Madrid. Und viele dort erinnern sich noch an die goldenen Zeiten, als man der lärmigen und im Sommer stickigen Stadt entfloh und in die Hügel der Provinz Guadalajara fuhr. Ans Meer.
Das kastilische Meer: So nennt man den Stausee «Entrepeñas», an dessen Südufer das Dörfchen Sacedón liegt. Der See war vor zehn Jahren noch voll. 900 Boote hatten hier ihren Ankerplatz. An den Ufern entstanden Strände. Sobald die warme Jahreszeit begann, waren die Hotels von Sacedón ausgebucht. Man lebte fast nur vom Tourismus. Und man lebte gut. Heute ist alles anders. Hoffnungslos.
Francisco Pérez, der Bürgermeister von Sacedón, fährt in einen kleinen Park, steigt dort aus und sagt erst nichts. Das Bild soll wirken.
Dann fängt Pérez an zu reden: «Hier, wo wir stehen, war früher Wasser, die Autostrasse da vorn liegt auf Pfeilern, die früher im See standen. Das Restaurant hinter uns ist auch auf Pfeiler gebaut, bis dort reichte das Wasser des Sees. Und heute? Nichts mehr.»
Der Stausee ist geschrumpft. Er füllt sich nicht mehr. Im Sommer ist der frühere Seeboden ausgetrocknet und rissig wie in den Dürregebieten Afrikas. Tourismus gibt es kaum mehr, die Madrider haben ihre Boote längst abgezogen. Die Hotels stehen leer, ihr Geschäft ist um 80 Prozent eingebrochen. «Was haben wir denn noch zu bieten hier», fragt Jorge Romo, «eine Wüste».
«Wir müssen uns überlegen, wie es jetzt weitergehen soll», sagt Romo. Er ist einer der wenigen Hoteliers, die noch ausharren. Von den einst zweitausend Einwohnerinnen und Einwohnern seien vierhundert weggezogen. Die Jungen fast alle, sagt Francisco Pérez, der kämpferische Bürgermeister. Er will sein Dorf retten, und er will «seinen» See zurück. Bei den Behörden in Madrid aber bleibt er erfolglos.
Dass im See je wieder so viel Wasser gestaut wird wie vor zehn Jahren, ist kaum vorstellbar. Die Zuflüsse, die ihn füllen, sind in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden, das abfliessende Wasser wird also nicht schnell erneuert. Vor allem aber fliesst mehr ab, als das, was der Flusslauf des Tajo bekommt. Denn da ist noch «der Kanal».
Der Stausee «Entrepeñas» wurde Ende der 1950er Jahre gebaut. Wie der zweite See am Oberlauf mit dem Namen «Buen Dia» (Guter Tag). Damals schon war die Rede von einem Kanal, der Tajo-Wasser in den Süden bringen sollte, in die Region Murcia, deren Landwirtschaft unter chronischem Wassermangel litt. Gebaut wurde der dreihundert Kilometer lange Kanal Ende der 1970er Jahre, in Betrieb ist er seit 1981.
«Mehr Wasser für Aranjuez, verdammt, mehr Wasser!»
Zunächst nahm man den Verlust nicht wahr. Es war genug Wasser da. Als es aber knapper wurde, fing der Pegel in den Stauseen an zu sinken. Weil alles Wasser der Seen nach Murcia umgeleitet werden muss, sobald ein bestimmter, sehr niedriger Wasserstand erreicht ist. Auch in einem regenreichen Jahr, wie es 2018 bisher ist, steigt der Pegel darum nicht mehr markant.
Es ist heute denkbar, dass die beiden Seen trotz der starken Regenfälle im März und April bis Ende Jahr wieder auf 10 oder 15 Prozent ihres Volumens sinken. Heute steht der «Buen Dìa»-Pegel bei 18 und der «Entrepeñas»-Pegel bei 30 Prozent.
Die Aufsichtsbehörde über das Flussgebiet des Tajo bestreitet, dass die Umleitung von Wasser nach Murcia schädlich sei. Und sie erinnert daran, dass im Dürrejahr 2017 kaum Wasser südwärts geflossen sei, weil die Pegelstände in den Stauseen zu niedrig waren. Das ist richtig, zeigt aber vor allem, wie dramatisch die Lage letztes Jahr war, denn Umleitungen sind schon bei einem sehr niedrigen Pegel erlaubt.
Zum ersten Mal wurden die Schleusen dieses Jahr am 9. April geöffnet. Und das spürt man nicht nur in Sacedón, sondern auch hundert Kilometer weiter westlich, am Flusslauf des Tajo, in der Königsstadt Aranjuez.
Aranjuez war seit dem 16. Jahrhundert ein Sommersitz der spanischen Könige. Um den Palast legten sie weitläufige Gärten an, sie jagten und vergnügten sich auf dem Wasser in luxuriösen Booten, den Faluas, einer Art schwimmender Kutschen. Was von der königlichen Sommerlust geblieben ist, steht heute unter Schutz. Und ist in Gefahr, weil das Wasser knapp ist.
Die Bürgermeisterin der Stadt ist eine umtriebige und lautstarke Kämpferin für ihren Fluss. Cristina Moreno weiss warum. Sie vermarktet die geschützte Auenlandschaft und die Schlossparks touristisch.
«In den letzten Jahren ist das Grundwasser in Aranjuez um zwei Meter gesunken. Die Wurzeln der alten Bäume in den Schlossgärten erreichen das Grundwasser nicht mehr. Das ist nicht allein eine Folge der Trockenheit, es hat auch zu tun mit der Wasserumleitung vom Tajo nach Murcia. Den Tajo kann man hier heute an gewissen Stellen zu Fuss durchwaten. Ein Skandal.»
Tatsächlich kommt der Tajo sehr abgemagert an in Aranjuez. Melquíades Molinero, ein Umweltinspektor der Stadt (und in der Freizeit Öko-Aktivist), sagt, oft flössen nicht mehr als sechs oder sieben Kubikmeter Wasser pro Sekunde durchs Flussbett. In den 1980er Jahren waren es sechsmal mehr. Heute fliesst Spaniens längster Fluss als Rinnsal an der Königsstadt vorbei. Die Ufervegetation verändere sich, sagt Molinero, und auch die Fische im Wasser seien nicht mehr dieselben wie in einem reissenden Fluss. Darum die Gefahr für die Landschaft.
Aranjuez gehört zum Verband der Tajo-Gemeinden, die sich gemeinsam in die nationale Wasserpolitik einmischen wollen. Bisher fanden sie nicht mehr Gehör in Madrid als der Bürgermeister von Sacedón.
Konkrete Vorschläge zu einem Wasserkonzept haben die Bürgermeister bisher aber nicht erarbeitet. Sie werden sich anstrengen müssen, damit ihnen mehr einfällt als Francisco Umbral. Der 2007 verstorbene spanische Schriftsteller und Kolumnist soll dereinst ausgerufen haben: «Mehr Wasser für Aranjuez, verdammt, mehr Wasser!»