«Als Kind habe ich noch mit meiner ganzen Familie vor der chinesischen Botschaft demonstriert. Heute ist das undenkbar.» Namtso Reichlin erinnert sich gerne an die Tibet-Proteste aus ihrer Kindheit zurück. Richtige Familienausflüge seien das gewesen, sagt sie. Auch als Erwachsene setzt sie sich für die Unabhängigkeit ein, organisiert Proteste und geriet auch schon das eine oder andere Mal mit der Polizei aneinander. Doch die Art und Weise, wie Tiber*innen in der Schweiz ihren Unmut über die Situation in Tibet äussern dürfen, habe sich in den letzten Jahren geändert, sagt Reichlin. «Die Schweiz kuscht vor China. Darum werden Proteste, wie ich sie damals als Kind erlebt habe, heute nicht mehr geduldet.»
Diesen Eindruck teilt Simona Grano. Die China-Expertin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich sagt: «Je stärker die Beziehung zwischen der Schweiz und China wurde, desto schlechter wurde das Verhältnis zwischen der Schweiz und Tibet.» Für China sei es wichtig, dass möglichst wenig Lärm um Tibet gemacht wird: «China sein Image verbessern und der Welt zeigen: China hat kein Problem, auch nicht mit Minderheiten.»
Diesen Herbst ist es 60 Jahre her, seit die ersten Geflüchteten aus Tibet in die Schweiz kamen. Damals hat die Schweiz Tibeter*innen sogar aktiv ins Land geholt und willkommen geheissen. Doch das Verhältnis zwischen der Schweiz und Tibet hat sich in den letzten Jahren verändert. Für Tibeter*innen ist es schwieriger geworden, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Der Bundesrat hat den Dalai Lama seit 2005 nicht mehr empfangen. Und Tibet-Aktivist*innen sagen, dass sie nicht mehr so frei für die Unabhängigkeit Tibets demonstrieren dürften wie früher. Wir bei SRF Forward fragen uns: Woran liegt das? Und was bedeutet diese Veränderung für die tibetische Community in der Schweiz?