Egal ob sie in einem Heim wohnen oder zu Hause betreut werden – Menschen mit einer Beeinträchtigung sollen selber mitbestimmen, wie und von wem sie betreut werden. Derzeit gibt der Kanton Bern nur Geld, wenn die Menschen in einem Heim oder einer Institution leben. Er will das System darum ändern.
Ich habe verschiedene Assistenten, Betreuer, die ich selber ausgesucht habe.
Seit einigen Jahren läuft dazu ein Pilotprojekt mit derzeit rund 600 Personen. Diese erhalten das Geld für ihre Betreuung direkt vom Kanton und können sich damit ihre Betreuung selber aussuchen. «Ich bin nun Chefin, mache eigene Lohnabrechnungen und wenn jemand krank ist, schaue ich selber für Ersatz», sagt Doris Läderach in einer Videobotschaft der kantonalen Behindertenkonferenz. Sie ist nach 30 Jahren im Heim in eine eigene Wohnung gezogen und kümmert sich nun im Rahmen des Pilotprojekts selber um ihre Betreuung.
Systemwechsel in der Finanzierung
Um dieses System ab 2023 einführen zu können, muss der Kanton Bern das Gesetz revidieren. Er will dazu aber das Pilotprojekt anpassen.
Wie viel Geld eine Person für ihre Betreuung erhält, soll mit einem standardisierten Verfahren ermittelt werden. Dabei setzt der Kanton Bern aber nicht, wie bisher geplant, auf ein eigenes System, sondern übernimmt einen sogenannten «individuellen Hilfeplan», der seit Jahren in verschiedenen Kantonen der Schweiz und Bundesländern in Deutschland eingesetzt wird. Das eigene System habe zu viele Ressourcen verschlungen, sagt der bernische Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg.
Ohne Anpassungen hätten wir das System nicht mehr im Griff behalten.
Als weitere Änderung soll eine Obergrenze definiert werden – vorraussichtlich 800 Franken soll jede Person pro Tag maximal erhalten. Zudem soll es erst Geld geben, wenn eine Betreuung von über einer halben Stunde nötig ist. Mit diesen Anpassungen kostet das neue Finanzierungssystem nicht mehr bis zu 100 Millionen Franken mehr als bisher. Trotzdem rechnet die Gesundheitsdirektion mit Mehrkosten von 20 Millionen Franken.
Institutionen müssen um Kunden buhlen
Die neue Finanzierungsform fördere aber auch die unternehmerische Freiheit der Institutionen, sagt Schnegg. Diese müssten künftig für einen Menschen mit Beeinträchtigung attraktiv sein. «So attraktiv, dass dieser Lust darauf hat, dort zu wohnen und sich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreuen zu lassen.» Die Institutionen würden so noch mehr als heute zu KMUs, die attraktive Angebote erbringen und sich auf dem Markt positionieren müssten, so Schnegg.
Nur vermeintliche Selbstbestimmung
Von Beginn an kritisierten jedoch Behindertenverbände, dass Betroffene nur scheinbar mehr Verantwortung und Mitsprache erhielten. So könne der Kanton an mehreren Orten Einschränkungen machen, sagt Yvonne Brütsch, Geschäftsleiterin der kantonalen Behindertenkonferenz Bern. «Es gibt zahlreiche Kann-Formulierungen, welche das Gesetz unverbindlich machen.» So könne der Kanton zum Beispiel selber festlegen, in welchen Fällen ein ambulanter oder stationärer Leistungsbezug finanziert werde. Brütsch befürchtet, dass Menschen mit einem hohen Betreuungsbedarf nicht mehr alles Geld erhalten werden, das sie brauchen.
In der Vernehmlassung werde sie verlangen, dass die Selbstbestimmung für die Menschen mit einer Behinderung verbindlich geregelt werde, sagt Brütsch. Die Vernehmlassung dauert bis Ende Oktober 2020.