Seit vier Jahren führt Enea Martinelli eine Liste aller fehlenden Medikamente. In dieser Zeit haben die Lieferengpässe laut dem Chefapotheker der Spitäler Meiringen, Frutigen und Interlaken stetig zugenommen. «Als ich angefangen habe, dachte ich, 150 seien wahnsinnig viel. Vor kurzem waren es 600.» So viel wie noch nie.
Da die Engpässe zum Teil auch immer länger dauern würden, sei das gesamte Spitalpersonal gefordert. «Der Aufwand, alles so zu organisieren, damit der Patient nichts merkt, ist enorm», so Martinelli.
Lösung ist schwierig
Patienten brauchen Ersatzmedikamente, chronisch Kranke müssen auf andere Therapien umgestellt werden. Das bringt nicht nur einen Mehraufwand mit sich, sondern auch Kosten. Patienten müssen öfter zum Arzt, vielfach sind Ersatzmedikamente teurer.
Einfache Lösungen gibt es laut Martinelli nicht: «Wir haben unsere Lagerbestände erhöht in den letzten Jahren. Aber es ist sehr schwierig vorauszusehen, welche Produkte es betrifft.» Man könne auch nicht von jedem Medikament einen Jahresbedarf an Lager haben. «Da stehen wir im Risiko. Es ist verderbliche Ware. Sie verfällt irgendwann.»
Günstige Medikamente werden importiert
Beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung kennt man die Problematik. Ueli Haudenschild leitet die Abteilung Heilmittel und ist seit Jahren mit den Engpässen konfrontiert. «Es ist ein globalisierter Markt, vor allem bei den Billigprodukten.»
Massenware wie Generika und bestimmte Impfstoffe würden zu fast 100 Prozent importiert. «Der Wirkstoff wird meist in Billiglohnländern produziert, in China und Indien. Und zwar für den ganzen Markt.»
Das heisst, ein einzelner Wirkstoffhersteller beliefert fast alle Hersteller, und dies weltweit. Hat dieser ein Problem, gibt es globale Lieferengpässe. Ein Beispiel ist der Blutdrucksenker mit dem Wirkstoff Valsartan. Der chinesische Hersteller konnte im letzten Jahr nicht mehr liefern, sein Produkt war mit krebserregenden Stoffen verunreinigt.
Die Schweiz ist längst nicht mehr in jedem Segment ein Pharmaland. Die Industrie konzentriert sich auf neue, lukrative Produkte. Das stellt der Branchenverband nicht in Abrede. «Wenn man schaut, wo diese Lieferengpässe stattfinden, dann passieren sie vor allem bei Produkten, bei denen die Patente abgelaufen sind», so René Buholzer, CEO von Interpharma.
Es stelle sich die Frage, wie diese Produkte zu einem günstigen Preis produziert werden könnten. Es gehe ja auch um die nachhaltige Finanzierung des Schweizer Gesundheitssystems. «Dies führt halt häufig dazu, dass es eine Konzentration beim Produktionsprozess gibt», so Buholzer weiter.
Bund appelliert an Industrie
Ueli Haudenschild vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung appelliert an die Industrie, sich weniger abhängig zu machen. «Es braucht einen Wandel bei den Herstellern. Man muss weniger von einzelnen Wirkstofflieferanten in Fernost abhängig sein. Und weniger von einzelnen grossen Standorten».
Es müsse eine Diversifizierung stattfinden. «Das heisst eine Rückkehr nach Europa für gewisse Wirkstoffe, die wirklich wichtig sind.» Zwingen dazu kann man die Hersteller aber nicht. Das heisst: Auch in den nächsten Jahren werden immer wieder Medikamente fehlen – im Pharmaland Schweiz.
srf/ bacu, siem