Rund 170‘000 Franken: So viel hat jede berufstätige Person in der Schweiz letztes Jahr im Durchschnitt erwirtschaftet. Die Schweiz ist damit so reich wie nie zuvor.
Nur: An diesem Reichtum haben nicht alle gleichermassen teil, die daraus resultierenden Einkommen und Einkommenszuwächse sind sehr ungleich verteilt. Der grösste Teil des Wohlstandkuchens lande auf dem Teller der Topverdiener, prangert der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) an. In drei Bereichen befindet sich die Schweiz im internationalen Vergleich sogar im Rückstand.
Immer mehr für die Reichen – immer weniger für die Armen
Die Belastung durch steigende Krankenkassenprämien, verdeckte Arbeitslosigkeit und Stress am Arbeitsplatz belegen laut einer SGB-Studie eine «Entwicklung in die falsche Richtung».
Am eindringlichsten zeigt sich die wachsende Ungerechtigkeit an der so genannten Lohnschere, also an der Lohndifferenz zwischen Gutverdienenden und der Basis der Lohnempfänger.
Diese Schere öffnet sich seit Jahren in immer grösserem Umfang. Die Löhne der obersten 10 Prozent sind nach Berechnungen des SGB von 2002 bis 2012 nach Abzug der Teuerung um knapp 16 Prozent oder monatlich 1542 Franken gestiegen. Die mittleren und tiefen Löhne wurden abgehängt. Die mittleren stiegen um knapp 7 Prozent oder um 375 Franken pro Monat. Die tiefen um knapp 3 Prozent oder 102 Franken.
Abgaben-Politik für die Reichen?
Nicht weniger beschämend sind nach Ansicht des SGB die Einkommensdifferenzen zwischen den Geschlechtern. Frauen verdienten im Mittel nach wie vor 18,9 Prozent weniger als Männer. Den erwerbstätigen Frauen entgehen alleine wegen der direkten Diskriminierung jährlich 7,7 Milliarden Franken Lohn.
Für den SGB sind die Sünder rasch ausgemacht: Bund, Kantone und Arbeitgeber. Sie hätten es versäumt, mit einer nachhaltigen Steuer- und Abgabenpolitik dieser negativen Spirale die Dynamik zu rauben.
Eine weitere negative Dynamik erkennt der SGB in den Belastungen durch Kopfprämien im Versicherungswesen. Auch hier sei eine Schere zwischen Arm und Reich in Öffnung begriffen, wie der SGB schreibt.
Am stärksten schlagen die Kopfprämien bei der Krankenversicherung zu Buche. Die Kantone haben die Prämienverbilligungen längst nicht dem Prämienanstieg angepasst. Stattdessen haben die Kantone die Einkommens- und Vermögenssteuern, aber auch die Gewinnsteuern der Unternehmen gesenkt. Davon haben vor allem Reiche und Gutverdiener profitiert.
Verdeckte Erwerbslosigkeit nimmt rasant zu
Eine weitere Schere lokalisiert der SGB in der Differenz zwischen struktureller und verdeckter Arbeitslosigkeit.
Zähle man auch die verdeckt Erwerbslosen mit, so seien heute in der Schweiz rund 230‘000 Menschen oder 4,7 Prozent ohne Erwerbsarbeit. Das ist auch im Vergleich zum Ausland nicht mehr tief. Deutschland und Österreich liegen mit Quoten um rund 5 Prozent nur unwesentlich über der Schweiz. Dass dies alles zu einer gehörigen Portion Stress führen kann, erstaunt letztlich nicht mehr.
Macht Reichtum krank?
Stress, der sich am Arbeitsplatz in einem Krankheits-Aufkommen niederschlägt, ist in Europa nirgendwo höher als bei uns. Etwa die Hälfte der Berufstätigen leidet unter Kopf-, Schulter-, Nacken- oder Rückenschmerzen. Rund ein Viertel beklagt sich über Schlafstörungen.
Verschärfend zum Stress am Arbeitsplatz kämen noch die überlangen Arbeitszeiten dazu. In keinem anderen europäischen Land müssten die Arbeitnehmer so viele Arbeitsstunden pro Woche leisten, nämlich nahezu 43. Dazu kommt noch eine Dunkelziffer. Kontrolliert werden die Arbeitszeiten in der Schweiz ohnehin kaum. Und jede oder jeder Sechste erfasst ihre oder seine Arbeitszeit gar nicht.
Internationale Firmen verantwortlich?
Nicht ganz gleich wie der Gewerkschaftsbund sieht das Problem der Lohnschere der Schweizerische Arbeitgeberverband. «Die Schweiz hat die am meisten gleichmässig verteilten Löhne», sagt der Direktor des Verbands, Roland Müller, gegenüber SRF. Die Lohnschere gehe nicht derart auf, wie vom SGB dargestellt. Er beruft sich dabei auf eine Studie von Avenir Suisse, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen.
Müller führt die übermässige Zunahme bei den Toplöhnen in der Schweiz auf die Zunahme von internationalen Konzernen in unserem Land zurück. «Das hat mit der Globalisierung zu tun», sagt er. Man müsse die Löhne der Führungsriege in solchen Firmen mit den Vergütungen in den USA oder auf anderen Kontinenten vergleichen. Er gibt zu: «Da haben wir einen überproportionalen Anstieg.» Doch dies fokussiere sich primär auf diese global tätigen Unternehmen. «Das verfälscht das Gesamtbild statistisch gesehen etwas», so Müller.