Auf den ersten Blick scheint Gabriel Fischer einen Tag vor dem 1. Mai, dem Kampftag der Gewerkschaften, die Argumente auf seiner Seite zu haben. Die Auftragsbücher der Firmen sind voll, die Exporte auf Rekordniveau, der Franken-Euro-Kurs wieder bei 1.20. «Jetzt müssen die Arbeitnehmer profitieren», sagt der Chefökonom des Gewerkschafts-Dachverbandes Travail Suisse.
Sie hätten viel dazu beigetragen, den Frankenschock zu überwinden. Konkrete Lohnforderungen beschliesst Travail Suisse nach den Sommerferien, sie dürften bei rund 2.5 Prozent liegen.
Der zweite Blick ist jener aus der Sicht der Firmen: Was jetzt in der Firmenkasse übrigbleibt, muss für Investitionen hinhalten, die nach dem Frankenschock nicht drinlagen.
Beispiel Aeschlimann Décolletages, ein Hersteller von Präzisionsbauteilen am Jurasüdfuss. Wie in vielen KMU mussten Mitarbeiter hier nach dem Frankenschock 42 statt 40 Stunden pro Wochen arbeiten – zum gleichen Lohn. Die Massnahme wirkte, das Unternehmen schrieb 2015 eine schwarze Null. Die Arbeitszeit wurde wieder reduziert, die Hälfte der Gratis-Arbeit nachbezahlt.
Geschäftsleitungsmitglied Michael Ingold verspricht, im Herbst das Lohnniveau zu prüfen. Doch jetzt sei nicht der Zeitpunkt für generelle Lohnerhöhungen. Man wolle aufgeschobene Investitionen nachholen, etwa für einen Bürobau oder eine zentrale Lüftung.
Umfrage: Firmen wollen wieder mehr investieren
Nach dem Frankenschock fuhren exportorientierte Firmen ihre Investitionen im Mittel um bis zu 15 Prozent zurück. Jetzt wollen 48 Prozent der Schweizer Unternehmen wieder stärker investieren. Das zeigt eine Umfrage des Beratungsunternehmens Deloitte unter Finanzchefs, die «ECO» exklusiv vorliegt. 36 Prozent rechnen mit gleichbleibenden Investitionen in den kommenden zwölf Monaten, 16 Prozent mit einer Abnahme.
In Maschinen investieren oder höhere Löhne auszahlen? Der Arbeitgeberverband setzt vorerst auf die Maschinen. Präsident Valentin Vogt sagte jüngst in der Sonntagspresse: «Bei vielen Firmen herrscht immer noch ein Investitionsstau. Erst wenn dieser aufgehoben ist, können auch die Löhne nominal wieder steigen.»
Erst wenn der Investitionsstau aufgehoben ist, können die Löhne wieder steigen.
Die Löhne: Nominal sind sie in den letzten Jahren zwar nur gering gewachsen, dank tiefer oder gar negativer Teuerung blieben unter dem Strich aber Reallohnzuwächse von einem Prozent und mehr. Das ist freilich das Resultat der ökonomischen Grosswetterlage und kein Entgegenkommen der Firmen.
«Man muss auch sehen, dass gleichzeitig die Krankenkassenprämien und die Mieten stark gestiegen sind – und dass das allgemeine Preisniveau jetzt wieder steigt», sagt Gewerkschafter Gabriel Fischer. Es brauche nun Lohnerhöhungen, um zu verhindern, dass die Kaufkraft sinke.
Der SNB-Chef sagt steigende Löhne voraus
Mittelfristig rechnet auch Thomas Jordan, Präsident der Schweizerischen Nationalbank, mit höheren Löhnen. Er erwarte höhere Inflationsraten, weil die Produktion weltweit beinahe voll ausgelastet sei, sagte er jüngst zu Bloomberg. «Aus meiner Sicht ist es also nur eine Frage der Zeit, bis wir höhere Löhne sehen werden.»
Noch etwas spricht dafür, dass die Mitarbeiter an der guten wirtschaftlichen Situation bald mitverdienen. «Wir sind hier am Jurasüdfuss in einem Arbeitsmarkt mit viel Konkurrenz», sagt Michael Ingold von Aeschlimann Décolletages. «Wenn wir nicht marktfähige Löhne an unsere Mitarbeiter zahlen, haben wir Probleme bei der Rekrutierung.» Letztlich sei dieser Druck des Marktes höher als jener der Gewerkschaft.
Wer hat Recht, die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber? Der liberale Ökonom Franz Jaeger kennt beide Seiten. Er plädiert für Investitionen, appelliert an die Banken – und lobt die Schweizerische Nationalbank.
SRF News: Die Aussichten für Schweizer Unternehmen sind besser geworden. Was sollten KMU tun?
Franz Jaeger: Die Margen haben sich verbessert, die Gewinnsituation hat sich verbessert. Was in den letzten Jahren wegen der Frankenstärke verpasst wurde, muss nun nachgeholt werden. Es ist ganz klar: Wir haben eine Investitionslücke. Wir wissen nicht genau, wie hoch sie ist, aber wir können eines sagen: Jetzt müssen KMU in erster Priorität investieren.
Die Gewerkschaften sehen das anders. Sie sagen, jetzt müssten zuerst die Löhne steigen.
Ich habe Verständnis für diese Forderung. Bei grossen Unternehmen, die nicht so sehr unter dem starken Franken litten wie die KMU, müssten höhere Löhne durchaus drinliegen. Die Mitarbeiter müssen am guten Ergebnis, das wir vor uns haben, beteiligt werden. Bei KMU hingegen müssen Innovationen Priorität haben. So können diese Firmen ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder steigern.
Bei vielen Firmen musste die Belegschaft nach dem Frankenschock zum gleichen Lohn länger arbeiten. Ist die Hoffnung auf steigende Löhne jetzt berechtigt?
Wo Arbeitnehmer Einbussen hinnehmen mussten, muss es eine Korrektur geben. Und ich bin überzeugt, dass unsere Patrons ihr Herz und ihren ökonomischen Verstand bei den Mitarbeitern haben. Das hat man schon nach dem Frankenschock gesehen: Sie wollten ihre Leute nicht entlassen, solange es möglich war, und sie werden auch jetzt ihren Mitarbeitern entgegenkommen, auch in ihrem eigenen Interesse.
Warum im eigenen Interesse?
Der Erfolg einer Branche, das gilt auch für Maschinenindustrie, und das gilt auch für KMU, hängt nicht nur von der Kundenzufriedenheit, sondern auch sehr stark von der Zufriedenheit der Mitarbeiter ab.
Im Zusammenhang mit dem starken Franken geriet die Schweizerische Nationalbank in die Kritik, auch von ihrer Seite. Wie beurteilen Sie die Arbeit der SNB heute?
In den letzten zwei Jahren hat die SNB genau das Richtige gemacht. Ich würde sogar sagen: Einen besseren Job kann man fast nicht machen, das wird auch im Ausland so festgestellt. Ich glaube, da kann man nur hoffen, dass es weiter in diese Richtung geht mit der Notenbank.
Wenn KMU künftig wieder mehr investieren wollen, welche Rolle kommt den Banken zu?
Ich hoffe, dass die Banken sehen, dass nun auch sie mitmachen müssen. Nicht nur die Investoren, nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Banken sind aufgefordert. Sie sollten den KMU wieder bessere Kreditbedingungen geben. Erfreulich ist, dass Plattformen entstehen, wo sich Kreditgeber und Kreditnehmer treffen, da ist auf privater Ebene einiges im Gang.