Der Fall von Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz ist im Kanton Zürich nur einer von derzeit 190 offenen Fällen, mit denen sich die Staatsanwälte beschäftigen. Meist geht es um Geldwäscherei, Urkundenfälschung, Steuerbetrug, Konkurs-Reiterei oder Cyberkriminalität. Der Pendenzenberg der zuständigen Staatsanwaltschaft steigt von Jahr zu Jahr.
Elf Fälle für jeden Staatsanwalt – im Schnitt
Liegt ein Fall von mutmasslicher Wirtschaftskriminalität vor, ermitteln im Kanton Zürich 18 spezialisierte Staatsanwälte. Im Schnitt ist jeder und jede von ihnen in 11 verschiedenen Angelegenheiten tätig. Das seien doppelte so viele Fälle pro Staatsanwalt wie früher, sagt Christian Weber.
Der frühere Staatsanwalt leitete diese Abteilung bis vor neun Jahren. Schon damals habe man die Arbeit nur dank klarer Prioritätensetzung erledigen können: «Wir hatten Listen mit A-, B- und C-Fällen. An erster Stelle standen die Haftfälle und jene Fälle, die in der Öffentlichkeit ein grosses Interesse fanden.»
Anwalt der ersten Stunde
Weniger wichtige Fälle bleiben länger liegen. Weber hat nach seiner Karriere als Staatsanwalt die Seite gewechselt und verteidigt nun als Anwalt seine Klienten. Er stellt fest: Die Zürcher Staatsanwälte hätten heute nicht nur mehr um die Ohren, sondern sie hätten auch an Macht verloren.
So hat die neue Strafprozessordnung, die vor sieben Jahren in Kraft trat, den Anwalt der ersten Stunde gebracht. Das heisst: Schon bei der ersten Einvernahme des zuständigen Staatsanwalts hat der Beschuldigte einen Anwalt zur Seite, der ihn berät und auch mal empfiehlt, bei einer heiklen Frage zu schweigen: «Ich erinnere mich an Fälle vor 25 Jahren, wo es von Vorteil war, wenn der Beschuldigte ohne Anwalt beim Staatsanwalt sass und vielleicht die materielle Wahrheit eher preisgab.»
Ein Heer von Anwälten und riesige Datenmengen
Heutzutage liessen sich die Beschuldigten zudem immer häufiger nicht nur von einem, sondern gleich von mehreren Anwälten verteidigen. Die oft mächtigen und gutbetuchten mutmasslichen Wirtschaftskriminellen beauftragten spezialisierte Anwaltskanzleien, sagt Weber: «Bei Grosskanzleien können mehrere Anwälte an einem Fall arbeiten, während der Staatsanwalt in der Regel als Einzelkämpfer auf weitem Feld dasteht.»
Renommierte Kanzleien wie Lenz & Staehlin, Bär & Karrer oder Homburger beschäftigen heute zwischen 130 und 230 Anwälte, die alle Kniffs kennen und das Leben der Staatsanwälte erschweren. Kommt dazu, dass die Fälle von Wirtschaftskriminalität deutlich komplexer geworden sind – etwa wegen der Digitalisierung. Statt drei bis vier Bundesordner Beweismaterial müssten oft riesige Datenmengen ausgewertet werden, berichtet Weber.
Aufwändige Rechtshilfeverfahren
Eine grosse Herausforderung: «Digitale Spuren können gefälscht werden, etwa die Absender und Zeitangaben von Mails. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass alles so stimmt.» Zudem seien die Staatsanwälte häufig auf die Hilfe von ausländischen Behörden angewiesen. Denn Wirtschaftskriminalität mache in der heutigen globalisierten Welt nicht Halt an der Grenze. Rechtshilfeverfahren verzögerten die Ermittlungen automatisch.
Kompliziertere Fälle und eine hohe Arbeitsbelastung – der amtierende Chef der Zürcher Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte, Peter Pellegrini, bestätigt dies: «Selbstverständlich könnten wir mehr Staatsanwälte noch so gerne einsetzen. Doch wir müssen uns mit den Ressourcen arrangieren. Alles andere ist ein politischer Entscheid.»
Ein «Ressourcenschoner»
Immerhin sind mit der revidierten Strafprozessordnung seit 2011 sogenannte «abgekürzte Verfahren» möglich geworden. Ist der Beschuldigte geständig, kann er sich mit der Staatsanwaltschaft auf einen Vergleich einigen. Pellegrini: «Wir erleben die abgekürzten Verfahren als Ressourcenschoner. Seit der neuen Strafprozessordnung ist jede vierte Anklage der Staatsanwaltschaft im abgekürzten Verfahren erledigt worden.»
Hauptsache kurz? Mitnichten!
Dank diesen abgekürzten Verfahren und auch weil die Zusammenarbeit mit der Polizei effizienter geworden sei, habe sich die durchschnittliche Fallbearbeitungs-Zeit im Vergleich zu früher nicht stark erhöht. Sie liegt heute bei etwas über zwei Jahren.
Den Vorwurf, die Staatsanwaltschaft gehe mit den Kriminellen mit Blick auf kurze Verfahren faule Vergleiche ein, lässt Pellegrini nicht gelten: «Zwei von drei Verurteilten, die ein abgekürzten Verfahren gewählt haben, müssen zumindest einen Teil ihrer Strafe effektiv im Gefängnis absitzen.»