Flache Hierarchien sind längst Realität, doch die Holokratie geht weiter: Keine Vorgesetzten mehr und eine hohe Selbstverantwortung der einzelnen Angestellten. Das revolutionäre Organisationsmodell wurde 2015 von US-Unternehmer Brian Robertson entwickelt und erstmals in seiner Firma Ternary Software Corporation umgesetzt.
Zwei Schweizer Firmen haben sich auf die Holokratie eingelassen und ziehen unterschiedliche Bilanzen.
Die Gründe: Das Unternehmen war an einigen Standorten zu schnell gewachsen, wie Mitgründerin Nadja Perroulaz sagt. Um weiter wachsen zu können, habe es eine andere Struktur gebraucht. «Wir haben uns umgeschaut, die Holokratie entdeckt und gedacht: ‹Tönt nicht schlecht, versuchen wir es mal.›»
Die Veränderungen: Das Unternehmen hat laut Perroulaz zum ersten Mal ein Organigramm. Seither sei jeder Mitarbeiter für mindestens einen Bereich zuständig. Jeder ist also irgendwie sein eigener Chef. Zur Lösung von Konflikten – und auch sonst – gibt es strenge Regeln, notfalls kann ein Mediator angerufen werden.
Die Vorteile: Seit Einführung der Holokratie sei das Unternehmen viel strukturierter geworden, so Perroulaz. Für die Mitarbeiter sei das Modell insgesamt eine gute Sache. Sie seien motivierter. Mehr Innovation habe die neue Entscheidungsfreiheit der Mitarbeitenden dem Unternehmen bislang zwar nicht gebracht, dafür aber sehr gutes Marketing, sagt Philipp Egli, der für diesen Bereich zuständig ist. «Das ist eine super Geschichte und nicht unwesentlich für unsere Kommunikationsstrategie.» Das cheflose Experiment soll daher auf jeden Fall fortgeführt werden.
Die Nachteile: Am Anfang hätten sie den Aufwand für die Holokratie unterschätzt, sagt Perroulaz. Ungeklärte Fragen – wie etwa wer die Löhne bestimmt, neue Leute einstellt und Mitarbeitergespräche hält – führten immer wieder zu Spannungen und auch Abgängen. Für Egli sind die strikte Rollenverteilung und die vielen Regeln auch der grösste Nachteil des cheflosen Daseins. Das Persönliche bleibe mitunter etwas auf der Strecke. Perroulaz gibt auch zu, dass die hierarchielose Struktur nicht jedem liegt, weil nicht jeder sein eigener Chef sein mag. Umgekehrt ist sie auch nichts für Menschen, die eine Karriere anstreben, wie LIIP-Jurist Giorgio Nadig betont.
Die Gründe: Die Swisscom experimentiert schon seit längerem mit flexibleren Organisationsformen. Der frühere Personalmanager Adrian Bucher testet mit seinem bisherigen Team die Holokratie. «Es geht darum, dass die Swisscom neue Wege der Zusammenarbeit findet. Das ist einer der Hauptgründe für dieses Experiment.» Ziel sei es, schneller Entscheide zu fällen, um flexibler und auf Veränderungen am Markt reagieren zu können.
Die Veränderungen: Bucher hat seine Führungsautorität ans Team abgetreten. Deshalb könne er nicht mehr einfach Dinge entscheiden, sondern er müsse akzeptieren, dass heute gleichgestellte Mitarbeitende und frühere Untergebene bestimmte Entscheide fällen.
Die Vorteile: Die Entscheide werden laut Bucher schneller, transparenter und vor allem von Leuten mit der nötigen Fachkenntnis gefällt. Deshalb wolle er das Modell in dieser Abteilung auch weiterführen.
Die Nachteile: Manchmal sei es hart, nicht mehr selber entscheiden zu können, sagt Bucher. «Es ist vor allem nicht einfach, wenn ich denke, ich hätte eine andere Idee, wie man etwas tun könnte.» Auch wenn der frühere Chef von den Vorteilen des cheflosen Arbeitens überzeugt ist, für einen grossen Konzern sei das Modell kaum geeignet: «Aber nicht, weil es nicht funktioniert, sondern – und davon bin ich überzeugt – weil es das perfekte Modell nicht gibt.»